Knapp sechs Wochen nach dem Attentat auf den russischen Doppelagenten Sergej Skripal haben unabhängige Experten den Einsatz des Nervengiftes Nowitschok bestätigt – aber keine Hinweise auf den Täter geliefert. Immerhin: Der Stoff sei von «hoher Reinheit», was auf ein staatliches Labor als Hersteller hinweise.
Grossbritannien sieht damit seine Sicht der Dinge bestätigt: Der Kreml habe sich am abtrünnigen Spion gerächt; die russische Regierung weist weiter jede Verantwortung von sich. Anklage aus London und postwendendes Dementi aus Moskau – die Geschichte wiederholt sich. Ist die Welt so schlau wie zuvor?
Paul-Anton Krüger ist Journalist und Experte für internationale Sicherheit. Die Analyse der OPCW-Kontrolleure stellt er nicht infrage. Der Kreis der Verdächtigen werde durch den Bericht der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen weiter eingeschränkt; zumal die Kontrolleure eigene Proben genommen hätten, um zu bestätigen, dass das britische Labor keine Fehler gemacht habe: «Das Ergebnis ist wasserdicht.»
Taktisches Schweigen der OPCW
Allerdings: Die OPCW äussert sich im Bericht nicht zur Herkunft des Giftes und vermeidet den Begriff «Nowitschok». Die Behörde nennt lediglich die chemische Struktur des Stoffes. Politische Korrektheit oder ein Indiz dafür, dass belastbare Beweise für eine russische Verwicklung in den Giftanschlag fehlen?
Sicherheitsexperte Krüger sieht ganz andere Gründe für das vermeintliche Lavieren: «Nowitschok ist bei der OPCW nie offiziell als Kampfstoff deklariert worden.» Der Stoff sei der Organisation natürlich bekannt; aber offiziell eben nicht.
Man muss sich die Frage stellen, welche anderen plausiblen Erklärungen (als eine russische Urheberschaft) vorstellbar sind.
Zudem spiele hinein, dass gewisse Akteure Interesse an genaueren Informationen zur Zusammensetzung und Synthese des Kampfstoffes haben könnten: «Man versucht die Verbreitung von Informationen möglichst gering zu halten», sagt Krüger.
In der öffentlich gemachten Erklärung finde sich deswegen die schwammige Formulierung, dass es sich um den Stoff handle, den das britische Labor gegenüber der OPCW benannt habe.
Krüger kommt zum Schluss: «Es lässt sich eine Indizienkette bilden. Man muss sich die Frage stellen, welche anderen plausiblen Erklärungen (als eine russische Urheberschaft) vorstellbar sind.»
Diese «Indizienkette» ändert aber wenig daran, dass auch nach dem Bericht endgültige Klarheit über eine russische Verwicklung, ja sogar einen direkt vom Kreml angeordneten Mordanschlag fehlen. Das dürfte alternative Erklärungsmodelle weiter befeuern.
Operation unter falscher Flagge?
An einer der prominentesten Alternativerzählungen hat Russland gleich selbst mitgewirkt: Es stellte in den Raum, dass das Gift aus dem britischen Chemiewaffenlabor stamme. Demnach soll es sich beim Anschlag auf den Ex-Doppelagenten um eine Operation unter falscher Flagge gehandelt haben. Das Ziel: Den aufmüpfigen Kreml international weiter zu isolieren.
Diese Theorie hat weiteren Auftrieb erhalten, nachdem der Chef des britischen Chemiewaffenlabors in einem Interview gesagt hatte, sein Labor könne die genaue Herkunft des Giftes nicht feststellen. «Das ist aber jedem klar, der sich mit der Materie auskennt», relativiert Krüger.
Denn: Nur mit einer Vergleichsprobe aus dem Labor, aus dem das beim Anschlag verwendete Gift hergestellt wurde, liesse sich Gewissheit über dessen Herkunft gewinnen: «Etwa aufgrund der Verunreinigungen im Stoff könnte man dann nachvollziehen, auf welche Weise dieser synthetisiert worden ist», so Krüger.
Wie weiter?
Eine solche Vergleichsprobe dürfte der Kreml kaum liefern. Russland hat erklärt, es habe keine anderen Kampfstoffe besessen als jene, die der OPCW geliefert wurden. Diese seien alle bis 2017 unter Aufsicht der OPCW vernichtet worden. Kann der Fall Skripal also jemals aufgeklärt werden?
«Im Prinzip» gebe es die Möglichkeit, aufgrund von Zweifeln an derlei Darstellungen «Verdachtsinspektionen» durchzuführen, sagt der deutsche Sicherheitsexperte: «Dann könnten Inspektoren die entsprechenden Labore in Russland besuchen.»