Die Brücke von Wladiwostok rüber auf die Insel Russki ist ein eindrückliches Bauwerk. Drei Kilometer lang spannt sie sich über eine Meerenge. Ihr Mittelstück hängt an strahlend weissen Stahlseilen. Über 300 Meter hoch ragen die Stützpfeiler in den Himmel. Eine technische Meisterleistung – modern, elegant.
Und so geht es weiter auf der Insel Russki. Im neu gebauten Hauptgebäude der «Fernöstlichen Föderalen Universität» eilen Studenten zu ihren Vorlesungen. Durch eine riesige Glasfront sieht man auf eine Meeresbucht – und rüber aufs Festland.
Erst wenige Jahre alt ist der Campus auf der Insel Russki. Michail Ivanov, Mitarbeiter des «Internationalen Departements» der Universität, erklärt: «Früher stand hier gar nichts, hier war Wald.» Wladimir Putin habe dann für 2012 den Apec-Gipfel nach Wladiwostok geholt, das Gipfeltreffen der Pazifikanrainer-Staaten. Also musste man einen Tagungsort bauen.
Milliardeninvestition im Fernen Osten
In weniger als vier Jahren stampfte Russland den weitläufigen Komplex aus dem Boden. Auch die Hängebrücke wurde eigens auf den Gipfel hin gebaut. Die Kosten betrugen umgerechnet über eineinhalb Milliarden Franken.
Der Staat hat hier sehr zielgerichtet investiert. Es ging darum, den Fernen Osten Russlands attraktiver zu machen.
Nach dem Gipfel zogen Professoren und Studierende aus Wladiwostok, wo die Uni-Gebäude verteilt gewesen waren, über das ganze Stadtgebiet, auf die Insel Russki. Die einstigen Hotels für die Gipfelbesucher werden seither als Wohnheime genutzt, in den Konferenzsälen wissenschaftliche Seminare abgehalten.
Uni-Mitarbeiter Michail Ivanov sagt, der Staat habe sehr zielgerichtet investiert: «Es ging darum, den Fernen Osten Russlands attraktiver zu machen; die jungen Leute sollen hier studieren und arbeiten können. Sie sollen in der Region bleiben statt alle nach Moskau gehen.»
Tatsächlich ist die Abwanderung aus Russlands Fernem Osten ein Problem. Der Campus auf der Insel Russki soll mithelfen, diesen Trend zu brechen – und hat offenbar Erfolg dabei. Beliebt jedenfalls ist die Uni.
Noch einmal Universitätsmitarbeiter Michail Ivanov: «Insgesamt studieren hier 30'000 Studenten, darunter 4000 Ausländer. 10'000 Studierende leben direkt auf dem Campus. Und da die Nachfrage sehr gross ist, planen wir den Bau von weiteren Wohnheimen.»
Zwei Welten auf einer kleinen Insel
Es ist ein schönes, neues Russland, das sich auf der Insel Russki präsentiert. Die glänzende Modernität der Universitätsgebäude hört aber ziemlich bald hinter dem Campus auf. In die Dörfer der Insel Russki führt nur eine verschneite Holperpiste.
Rund 5000 Einheimische leben auf der Insel, einer davon ist Denis Jasinkov: «Die haben die Brücke und die Universität gebaut – und damit hat es sich. An uns Einwohner hat niemand gedacht.» Jasinkov lebt seit bald zehn Jahren auf der Insel, er ist seiner Frau wegen hergezogen. Der 38-jährige Geologe verdient sein Geld in der Stadt, in Wladiwostok.
Ein weiter Weg – der absurderweise mit dem Bau der Brücke noch weiter geworden ist: «Früher gab es von unserem Dorf eine Fähre rüber nach Wladiwostok, die Überfahrt hat rund 40 Minuten gedauert. Aber dann meinten die Behörden: Es gebe jetzt ja eine Brücke, da brauche es die Schiffsverbindung nicht mehr.»
Das Problem dabei: Vom Dorf sind es über 25 Kilometer bis zu der Brücke. «Und die Strasse dahin ist in einem so furchtbaren Zustand, dass die Fahrt in die Stadt jetzt doppelt so lange dauert wie früher mit dem Schiff», sagt der Geologe.
Die Insel Russki war zu Sowjetzeiten militärisches Sperrgebiet, nur Einheimische durften überhaupt übersetzen. Hier verteidigte die Sowjetmacht ihr Land gegen Osten: jenseits des Meeres kommt erst Japan – dann irgendwann die amerikanische Westküste. Erst in den Neunziger-Jahren zog die Armee zu einem grossen Teil ab.
Um unser Leben hier zu verbessern, bräuchte es eigentlich nicht viel. Man müsste einfach die Strasse aus unserem Dorf zur Brücke asphaltieren. Alles, was es dafür bräuchte, wäre politischer Wille.
Jasinkov öffnet ein rostiges Eisentor und führt auf ein ehemaliges Kasernen-Gelände. Es ist ein Bild des Zerfalls: leerstehende Backsteingebäude, die Fenster eingeschlagen, die Fassaden abgebröckelt. Im Innern der einstigen Kaserne liegt Müll herum. Alle Kabel sind rausgerissen worden von Altmetall-Sammlern, die sich ein paar Rubel verdienen wollten.
Auf der Rückfahrt geht es durchs Dorf Podnoschje: Es besteht aus ein paar scheinbar zufällig hingepflanzten Plattenbauten, die Strassen dazwischen sind ungeteert. Auch Denis Jasinkov lebt hier.
Er liebt den Ort, wegen der Natur. Auf dem Heimweg von der Arbeit in Wladiwostok könne er manchmal Wale beobachten, Robben oder Seeadler. «Um unser Leben hier zu verbessern, bräuchte es eigentlich nicht viel», sagt Jasinkov. «Man müsste einfach die Strasse aus unserem Dorf zur Brücke asphaltieren. Alles, was es dafür bräuchte, wäre politischer Wille.»
An diesem Willen aber fehlt es. Der russische Staat kann innert weniger Jahre einen Universitätscampus aus dem Boden stampfen und eine Hängebrücke hinstellen. Aber eine Strasse für die eigenen Bürger – das will und will nicht klappen.
Denis Jasinkov nimmt diese krassen Gegensätze mit russischer Langmut: «Das war schon zu Zeiten der Zaren so. Da gab es St. Petersburg, die Kultur, das Ballett, den Glanz der Hauptstadt. Und auf der anderen Seite gab es den Schmutz der Provinz, diese Tristesse des Zerfalls, die Armut.» Diesbezüglich hat sich nicht viel geändert.