Schön an Grossvätern ist zum Beispiel, dass sie Enkeln Geschichten erzählen. Aber die Geschichten von Monika Hanikas Grossvater sind nicht schön. «Mein Grossvater hat immer erzählt, was mit deutschen Erwachsenen gemacht wurde», sagt sie. «Die mussten sich ihre Gräber selber graben und zuerst das Gras mit den Zähnen ausreissen. So habe ich das im Ohr.»
Der Grossvater lebte vor dem Zweiten Weltkrieg in Hejnice im Westen der Tschechoslowakei, war Schneider - dort, wo das Isergebirge bezaubernde grüne Kränze um die Dörfer legt. In Hitlers Partei war er nie. Trotzdem erlebte seine Familie Fürchterliches, als die Deutschen nach dem Ende des Krieges 1945 gehen mussten. Er, seine Tochter und seine beiden Enkel – also Monika Hanikas Mutter und ihre Brüder.
Vergewaltigung und Mord
«Mein Bruder sagt, er und andere Kinder seien von einem Soldaten mit Maschinengewehr in Schach gehalten worden», erzählt Monika Hanika. «Sie mussten zuschauen, wie russische Soldaten ein deutsches Mädchen vergewaltigten. Das Mädchen ist dann an den Folgen der Vergewaltigung gestorben.»
Schliesslich wurden die Deutschen vertrieben. Sie durften etwa 30 Kilo Habseligkeiten mitnehmen pro Person, Monika Hanikas Familie vergrub noch wertvolles Geschirr in einer Holzkiste im Garten; sie hofften, bald wieder zurückkehren zu können. Der Grossvater, die Mutter und die beiden Brüder wurden in Zugwagons gesteckt und nach Deutschland verfrachtet, nach Hessen.
In dem kriegsversehrten Land waren sie allerdings nicht willkommen, Feindseligkeit statt Heimat erwartete sie. Die Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei hatten einen anderen Dialekt als die Deutschen in Hessen, die meisten von ihnen waren Katholiken – und nicht Protestanten wie die Einheimischen. Und viele hatten eine höhere Bildung, während die Mehrheit der Alteingesessenen Bauern waren. Vor allem aber waren die Neuankömmlinge aus dem Osten arm.
Ein Wiedersehensfreudekind
«Sie hatten nichts, man bezeichnete sie hier als Zigeuner», sagt Monika Hanika. Ihr Vater fand seine Familie in Hessen erst später wieder. Als ehemaliger deutscher Soldat hatte er sich in der Tschechoslowakei verstecken müssen und war dann zuerst nach Sachsen geflüchtet.
1947 kam dann Monika Hanika in Hessen zur Welt; sie sagt, sie sei ein Wiedersehensfreudekind gewesen, geliebt und behütet trotz der Widrigkeiten im fremden Land. «Da gab’s kein Wasser, keine Toilette, nichts, was uns hätte beglücken können.»
Meine Mutter hat einfach an die Tür ihres ehemaligen Hauses geklopft.
Die Rückkehr in die Tschechoslowakei war ausgeschlossen. Zu tief sass der Hass; die Nazis hatten vor dem und im Zweiten Weltkrieg schrecklich gewütet, etliche Zivilisten ermordet, ganze Dörfer ausgelöscht.
Viele Tschechoslowaken und die tschechoslowakische Regierung liessen dafür alle Deutschen bezahlen, auch jede Minderheit, die Hitler nicht unterstützt hatte. Trotzdem fuhr Monika Hanikas Familie in den 1970er-Jahren mit dem Bus zurück nach Hejnice. Oder Haindorf, wie sie sagt. «Meine Mutter war eine sehr couragierte Frau, sie hat einfach an die Tür ihres ehemaligen Hauses geklopft.»
Deutsch-tschechische Freundschaft
Wenn man in Hejnice an die Tür des alten Hauses bei der Wallfahrtskirche klopft, öffnen Jitka und Jiří Bartoš, den Hund haben sie ins holzgetäfelte Zimmer nebenan gesperrt. «Die deutsche Familie vor unserem Haus radebrechte damals ein paar tschechische Wörter», sagt Jitka Bartoš. Sie wollten ihr Haus nicht zurück, keine Angst, sagten sie – nur noch einmal vorbeischauen.
Aus dem einen Mal wurde Freundschaft. Immer wieder besucht die deutsche Familie Hanika die tschechische Familie Bartoš. Die Enkelin von Monika Hanika hat einen Tschechen geheiratet, ist von Hessen in die Nähe von Hejnice gezogen. Als eine Überschwemmung das Holz im Haus zerfrass, halfen die Hanikas aus Deutschland mit Geld. Und als Familie Bartoš einmal den Garten umgrub, fand sie das alte Porzellan der Vertriebenen.
Monika Hanika bekam den Milchkrug der Familie zurück und schrieb ein Buch über die Geschichte der Vertreibung, erzählt aus der Perspektive des Geschirrs.
Bereichernde Besuche
«Ich wurde so erzogen, dass man zu allen gute Beziehungen hat, auch zu den Deutschen», sagt Jitka Bartoš. Als man die Deutschen vertrieb aus Hejnice, war sie ein Kind. Jeden Tag lagen damals Spielsachen vor ihrer Tür – die deutschen Kinder konnten sie nicht mitnehmen und überliessen sie lieber Jitkas freundlicher Familie als den Deutschenhassern im Dorf.
Die Besuche von Familie Hanika bereichern uns.
«Sonst blieb kaum eine Spur von den Deutschen im Dorf», sagt Jitka Bartoš. Alle Häuser gingen an Tschechen. Jitka und Jiri Bartoš waren schon die dritten tschechischen Besitzer, als sie in den 1960er-Jahren ins Haus der deutschen Hanikas einzogen. Heute sind sie froh darüber, dass die deutschen Vorbesitzer jedes Jahr wieder zu Besuch sind. Jitka Bartoš sagt: «Die Besuche von Familie Hanika bereichern uns, wir sehen ihre Dankbarkeit.»
Tschechien und «seine» Deutschen, das geht aber auch unversöhnlich. Monika Hanika erzählt von einer heute 90-jährigen Deutschen in Hejnice.
Immer noch, wenn sie durchs Dorf geht, sitzen da so ein paar Leute und beschimpfen sie als Nazi-Deutsche.
Sie durfte damals bleiben, weil ihr Vater als Kommunist gegen Hitler war: «Immer noch, wenn sie durchs Dorf geht, sitzen da so ein paar Leute und beschimpfen sie als Nazi-Deutsche. Das muss man sich einmal vorstellen.» Der Bruder von Monika Hanika, der den Mord am deutschen Mädchen mitansehen musste, konnte seinen Hass auf die Tschechen nie überwinden, ist nie mehr zurückgekehrt.
Therapie und Versöhnung
Monika Hanika selbst hat in Hejnice jahrelang als Familientherapeutin Tschechen und Deutsche zusammengebracht, erzählen, weinen lassen. So gehe Versöhnung, sagt sie. Dieses Zusammenkommen und Aussprechen sei viel wichtiger als politische Forderungen. Und geschehe noch zu selten. Allerdings bewegten sich die Dinge in Tschechien heute in eine gute Richtung, in Richtung Versöhnung.
Tatsächlich liegt gerade Versöhnung in der Luft. In der Stadt Ústí nad Labem in Nordtschechien entsteht im Moment die Dauerausstellung «unsere Deutschen». Schon der Titel wäre bis vor kurzem eine undenkbare Provokation gewesen, weil die Tschechoslowakei und später Tschechien die Deutschen eben lange nicht mehr als Teil ihres Landes sahen.
Heute ist so ein Ausstellungstitel aber möglich. Es gibt Filme über die Gräuel der Vertreibung. Und es gibt Versöhnungsmärsche: Dort, wo die Deutschen nach Kriegsende auf Todesmärsche geschickt wurden, wandern heute Tschechen und Deutsche gemeinsam im Gedenken. Die junge Generation interessiert sich für die Vergangenheit; sie kann das Wissen zulassen, dass nicht nur die Nazis Schreckliches getan haben.