Letztlich ging es um eine Entscheidung zwischen zwei Prinzipien: Um die Frage, was wichtiger ist: die Durchsetzung der Souveränität einer Regierung oder die Versorgung Notleidender mit dem Überlebensnotwendigen?
Eine einfache Wahl, sollte man denken. Doch in der derzeit von bitteren Konflikten zwischen grossen Mächten erschütterten Weltpolitik ist, was selbstverständlich sein müsste, keineswegs selbstverständlich.
Aus westlicher Sicht, unterstützt vom UNO-Generalsekretär und Dutzenden von Hilfswerken und Menschenrechtsorganisationen, muss die Not von Millionen von Menschen in den nicht von der Assad-Regierung kontrollierten Gebieten Syriens Priorität haben. Deshalb sollen sie weiter direkt über den türkisch-syrischen Grenzübergang Bab al-Hawa mit humanitären Hilfsgütern versorgt werden.
Russland liess drei von vier Nadelöhren schliessen
Mehr als tausend Lastwagen pro Monat wählen diesen Weg, beladen mit dem Allernötigsten. Früher erfolgte die Versorgung sogar über vier Grenzübergänge, auch solche zwischen dem Irak und Jordanien nach Syrien. Doch Russland erreichte mit seinem Veto im UNO-Sicherheitsrat, dass drei der vier Nadelöhre geschlossen werden mussten.
Denn aus Moskauer Sicht steht die Souveränität Syriens im Vordergrund. Nicht von Diktator Baschar al-Assad kontrollierte Grenzübergänge und Hilfe direkt über sie darf es aus prinzipiellen Gründen nicht geben. Jegliche internationale Unterstützung muss über Damaskus erfolgen, also mit dem Einverständnis der Regierung – und nicht an dieser vorbei. Denn Hilfe ist Macht. Wer Nothilfe kontrollieren, verteilen oder auch verhindern kann, hat Einfluss.
Direkthilfe nur noch über einen einzigen Übergang
Das Problem: Wie etwa die Belagerung von Aleppo zeigte, verteilt die syrische Regierung Nothilfe keineswegs gerecht. Sie benachteiligt die Bevölkerung in den Rebellengebieten krass, ja hungert sie teils gar aus und zwingt sie zur Flucht. Deshalb erlaubt eine 2014 beschlossene UNO-Resolution Direkthilfe in nicht von Assad kontrollierte Teile Syriens. Zuletzt war dies noch über einen einzigen Grenzübergang möglich, jenen von Bab al-Hawa. Die Lebensader für Millionen von Syrerinnen und Syrern.
Während westliche Staaten, angeführt von Norwegen und Irland, im Sicherheitsrat forderten, wieder mindestens zwei Grenzübergänge zu öffnen, verlangte Russland unnachgiebig, ab Samstag sogar Bab al-Hawa zu schliessen. Die Alarmrufe der UNO und von humanitären Organisationen wurden seit Tagen immer lauter, immer schriller.
Schliesslich lenkte Moskau zunächst ein bisschen ein, indem es eine Verlängerung der Direkthilfe über Bab al-Hawa für sechs Monate zulassen wollte. Zu guter Letzt erfolgte der zweite Teil der russischen Kehrtwende: Zumindest für ein weiteres Jahr darf Bab al-Hawa nun offenbleiben. Dem stimmte am Ende der Sicherheitsrat unisono zu, also mit der Stimme Russlands.
Aufatmen nur auf Zeit
Eine langfristige Lösung ist das freilich nicht. Auch keine nachhaltige. Und ebenso wenig eine hinreichende. Denn für Lieferungen in manche Teile Syriens bräuchte es weitere offene Grenzübergänge. Dennoch ist die Erleichterung bei der UNO und bei den Hilfswerken enorm. Zumindest das Katastrophenszenario ist vom Tisch, sofort die Direkthilfe einstellen zu müssen. Millionen von Menschen dürfen aufatmen. Für vorläufig ein Jahr.