So viel Zuwendung hat die EU schon lange nicht mehr erfahren. Mehr als die Hälfte der 427 Millionen Stimmberechtigten hat an der Wahl des EU-Parlaments teilgenommen. Die Wahlbeteiligung, jahrzehntelang im Sinkflug, hat kräftig zugelegt.
Geprägt war der Wahlkampf von den Folgen der grossen Krisen der vergangenen Jahre, von der Euro- und der Flüchtlingskrise. Das nutzte den EU-Skeptikern, welche der EU die Hauptverantwortung für diese Krisen zuschrieben. Es stärkte gleichzeitig aber auch die EU-Enthusiasten, welche die EU als Teil der Lösung solcher Krisen anpriesen. Kurzum: Über Sinn und Unsinn der EU wurde leidenschaftlich gestritten.
Zulegen konnten schliesslich zum einen gemässigte und radikale EU-Kritiker, eine breite Palette konservativer, nationalistischer und rechtsextremer Parteien. Je nachdem, welche Parteien man diesem Lager zurechnet, kommt man auf einen Wähleranteil von etwa 15 bis 25 Prozent.
Im Pro-EU-Lager konnten die Grünen und vor allem die Liberalen deutlich zulegen. Beide traten als Fürsprecher einer stärkeren EU hervor. Von allen Parteien gelang den Liberalen der grösste Sitzzuwachs. Im 751-köpfigen EU-Parlament steigerten sie ihre Mandatszahl von 69 auf voraussichtlich 105.
Dauerkoalition zerbrochen
Ein rauer Wind wehte dagegen den beiden grossen Volksparteien in der Mitte entgegen: der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP) und den Sozialdemokraten. Gemeinsam stellten sie im EU-Parlament seit 1979 die absolute Mehrheit, bildeten eine Art grosse Dauerkoalition. Beide hatten mit inneren Spannungen und Ermüdungserscheinungen zu kämpfen. Nun ist die Mehrheit weg, das Machtkartell gebrochen.
Im EU-Parlament wollen die Pro-EU-Parteien eine neue Mehrheitskoalition bilden. Fest steht: Sie wird vielfältiger sein müssen als das bisherige Machtkartell, mit mehr Parteien, mit frischer Luft. Eine entscheidende Rolle dürfte dabei den Liberalen zukommen, sie könnten zwischen den schwächelnden Christ- und Sozialdemokraten die selbstbewussten Mehrheitsbeschaffer spielen.
Simple EU-Kritik reicht nicht
Auf der anderen Seite wollen die EU-skeptischen Parteien eine starke Oppositionsallianz bilden. Um tatsächlich zum Machtfaktor zu werden, müssen sie allerdings mehr bieten als bloss Kritik an der real existierenden EU. Sie müssen in Sachfragen, etwa in der Wirtschaftspolitik, gemeinsame Positionen einnehmen und mit anderen Parteien zusammenspannen. In der Vergangenheit ist ihnen dies nicht gelungen.
Sicher ist: Das EU-Parlament verkörpert mehr denn je die unterschiedlichen Befindlichkeiten und Weltanschauungen, die Sorgen und Hoffnungen der Bürgerinnen und Bürger. Für die Demokratie in der EU war die Europawahl 2019 eine gute Wahl.