SRF News: In einer ihrer Kolumnen bezeichnen Sie die Aufregung rund um die russische Einflussnahme als naiv und Ausdruck von Doppelmoral. Wie kommen Sie darauf?
Marc Trachtenberg: Warum das Doppelmoral ist? Nun, in den USA dominiert derzeit die Haltung: «Es ist total empörend, was die Russen taten! Wie konnten die es nur wagen, die Server der Demokraten zu hacken! Wir können es nie akzeptieren, dass sich eine fremde Macht in unsere heiligen demokratischen Prozesse einmischt und versucht, unsere Wahlen zu beeinflussen».
Diese Position wird unablässig wiederholt – und das ausgerechnet von Personen in Machtpositionen, von Hillary und Bill Clinton zum Beispiel oder von Barack Obama – also von Personen, die doch genau wissen, dass die USA selber in ganz grossem Stil die Welt aushorchen. So soll zum Beispiel die NSA täglich rund zwei Milliarden Mails und Telefongespräche abhören und mitlesen. Es werden Entscheidungsträger ausgehorcht, und zwar nicht nur die unserer Feinde. Wir rechtfertigen das ohne Wimpernzucken. Aber wenn das die Russen tun, ist die Empörung riesig.
Für mich ist es Doppelmoral, wenn die russischen Versuche, die Wahl zu beeinflussen einen derartigen Aufschrei auslösen. Und wenn so getan wird, als ob die USA stets die demokratischen Entscheidungen anderer Länder akzeptieren würden. Als Historiker mit Schwerpunkt Kalter Krieg weiss ich, wie stark sich US-Regierungen immer wieder in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten eingemischt haben – selbst bei unseren Verbündeten!
Die USA sind überzeugt, dass wir das Recht haben, uns in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen.
Können Sie ein Beispiel machen für die Einmischung der USA?
Nun, das eindrücklichste Beispiel ist wohl die US-Einmischung in die Politik der Bundesrepublik Deutschland von 1963: Es ist eine unglaubliche Geschichte, die wenig bekannt ist. Damals waren die USA zunehmend unzufrieden mit Konrad Adenauer (Anm. d. Red. deutscher Bundeskanzler) – vor allem mit dessen Wunsch nach eigenen Atomwaffen. Das wollte die US-Regierung um jeden Preis verhindern. Also intrigierte sie bei den Feinden Adenauers in der Regierungskoalition, was schliesslich zum Rücktritt Adenauers führte. Noch zehn Jahre vorher unterstützten die USA Adenauer massiv, um einen Sieg der Sozialdemokraten zu verhindern.
Aber auch in Japan, in Italien oder in Frankreich mischten wir uns immer wieder unverhohlen in die Innenpolitik ein, vor allem um linke Parteien von der Macht fernzuhalten. Und das machten wir nur schon bei unseren Verbündeten!
Das sind aber alles Beispiele aus der Zeit des Kalten Krieges und müssen in diesem historischen Kontext betrachtet werden. Sind die USA seither zurück haltender geworden?
Ja, daran würde ich gerne glauben. Aber es ist nicht der Fall. Die Haltung, die wir im Kalten Krieg entwickelt haben, hat sich kaum verändert. Die USA sind überzeugt, dass wir das Recht haben, uns in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen. Jüngstes Beispiel war zum Beispiel die Drohung Obamas an die britischen Wähler, nach einem Ja zum Brexit müsse sich Grossbritannien erstmal zuhinterst in die Warteschlange einreihen, um neue Handelsverträge aushandeln zu können.
Oder ich erinnere an 2014, an den Telefon-Mitschnitt zwischen der US-Diplomatin Viktoria Nuland und dem US-Botschafter in Kiew vor drei Jahren: In diesem Telefongespräch besprechen die beiden, wie die Ereignisse in der Ukraine im Interesse der USA manipuliert werden können. Das ist alles bekannt bei uns und niemand stört sich daran – im Gegenteil. Ich frage: Wie kann man nur so arrogant sein und dann empört aufschreien, wenn die Russen das Gleiche mit uns tun!
Die politischen Eliten in den USA wollen solche Sachen nicht hören.
Und trotzdem: Direkte Einflussnahme auf den demokratischen Wahlprozess eines fremden Staates ist keine Lappalie. Es ist doch verständlich, dass die USA dagegen protestieren!
Natürlich können wir die russischen Aktionen verurteilen. Aber der Hauptpunkt meiner Kolumne war: Welche Haltung man auch immer einnimmt, sie sollte mit dem eigenen Verhalten übereinstimmen. Es geht nicht, dass die USA unterschiedliche Wertmassstäbe anwenden für sich und für den Rest der Welt. Wenn wir für uns das Recht auf Einmischung herausnehmen, sollten wir weder erstaunt noch entrüstet sein, wenn andere Staaten dies auch tun. Als grosse Nation sollten wir uns in solchen Fällen wie Erwachsene verhalten und nicht wie ein Haufen Kinder.
Welche Reaktionen haben Sie auf diese Haltung, bzw. ihre Kolumne bisher erhalten?
Fast keine. Stephen Walt, der die Kolumne bestellt hat, mochte sie – und meine Frau auch. Mehr Reaktionen gab es nicht. Ich hab die Kolumne vorher schon dem Wallstreet Journal angeboten – die lehnten sie aber ab. Erstaunt war ich jedoch nicht. Wissen Sie: Die politischen Eliten in den USA wollen solche Sachen nicht hören. Lieber reden sie davon, dass wir alles tun dürfen, weil wir die unverzichtbare Nation sind. Es ist für sie selbstverständlich, dass für uns andere Regeln gelten als für alle anderen. Deshalb habe ich auch nicht erwartet, dass jemand auf die Kolumne reagiert. Umso erfreuter war ich, als ich Ihre Interview-Anfrage aus der Schweiz erhalten habe.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.