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SRF-Korrespondent Martin Alioth zu den Vorwürfen an Corbyn
Aus SRF 4 News aktuell vom 28.03.2018.
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Heftige Kritik am Labour-Chef Ist Jeremy Corbyn ein Antisemit?

«Genug ist genug», finden jüdische Organisationen: Sie werfen dem britischen Oppositionsführer obsessiven Judenhass vor.

«Jeremy Corbyn ist besessen vom Hass auf Israel und den Zionismus»: In einem offenen Brief vom Sonntag werfen jüdische Organisationen dem britischen Labour-Chef Antisemitismus vor. Tags darauf versammelten sich Demonstranten vor dem Parlament in London, um gegen Corbyns vermeintlich antisemitische Gesinnung zu protestieren.

Ich werde niemals etwas anderes sein als ein militanter Gegner des Antisemitismus.
Autor: Jeremy Corbyn Labour-Chef

Stein des Anstosses ist ein Graffiti mit unzweideutiger Botschaft, gegen dessen Entfernung sich Corbyn 2012 stark gemacht hatte. Dass die Angelegenheit erst jetzt für Aufregung sorgt, habe mit dem «byzantinischen Umgang» der Labour-Partei mit internen Beschwerden zu tun, berichtet SRF-Korrespondent Martin Alioth: «Die Beschwerde blieb liegen und wurde erst in den letzten Wochen intern wieder zu neuem Leben erweckt.»

Das umstrittene Wandgemälde

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Das Graffiti zeigt jüdische und freimaurerische Kapitalisten, die das Volk ausbluten. Konkret: Anzugträger mit langer Hakennase, die auf dem Rücken nackter Menschen Monopoly spielen. Das Bild bediene unstrittig «antisemitische Klischees, die seit ewigen Zeiten mit böser Absicht verbreitet werden», sagt Alioth. Erschwerend kommt hinzu, dass das Graffiti im Osten Londons angebracht wurde, wo die grösste jüdische Gemeinde Grossbritanniens lebt. Das Bild wurde schliesslich übermalt.

Der glühende Anti-Kapitalist Corbyn hatte das Graffiti damals auf Facebook verteidigt. Es solle im Namen der Kunstfreiheit nicht entfernt werden. Nun rechtfertigt sich der Labour-Chef mit dem Argument, er habe damals nicht richtig hingeschaut.

Auf die Vorwürfe reagierte Corbyn am Montagabend – ebenfalls in einem offenen Brief. Darin stellte er klar, dass das Bild eindeutig eine antisemitische Verschwörungstheorie aufnehme. Und: «Ich werde niemals etwas anderes sein als ein militanter Gegner des Antisemitismus.»

Jeremy selbst ist kein Antisemit, aber er hat es zugelassen, dass ihn Antisemiten überall auf der Welt zu ihrem Posterboy gemacht haben.
Autor: Margaret Hodge Jüdische Labour-Politikerin

SRF-Korrespondent Alioth verfolgt Corbyns Politkarriere seit Jahrzehnten. Er sagt: «Corbyn ist ein altmodischer, romantischer Linker, der schon immer auf der Seite irgendwelcher Befreiungsbewegungen stand.» Entsprechend deutlich bezog Corbyn in Vergangenheit auch im Nahostkonflikt Stellung.

Er solidarisierte sich dabei allerdings, wie Alioth berichtet, nicht nur allgemein mit der palästinensischen Sache. Corbyn sei auch für militante Organisationen wie Hamas und Hisbollah eingetreten. «Daraus folgt fast schon automatisch eine scharfe Israel-Kritik, die leicht antisemitische Untertöne annehmen kann.»

Banner mit der Aufschrift: "Für die vielen, nicht die wenigen» wurde zu «Für die vielen, nicht den Juden."
Legende: Manche Demonstranten deuteten den Wahlkampfslogan von Labour um: «Für die vielen, nicht die wenigen» wurde zu «Für die vielen, nicht den Juden.» Reuters

Auch aus dem eigenen Lager gibt es Kritik am Parteichef. Die altgediente Labour-Politikerin Margaret Hodge, Tochter jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich, sagt etwa: «Jeremy selbst ist kein Antisemit. Aber er hat es zugelassen, dass ihn Antisemiten überall auf der Welt zu ihrem Posterboy gemacht haben.»

Corbyn sieht sich selbst als Gutmensch, als Freund aller Entrechteten und Anti-Rassist.
Autor: Martin Alioth SRF-Korrespondent für Grossbritannien und Irland

Auffällig ist: Seit Corbyn 2015 die Parteiführung übernommen hat, wurden wiederholt antisemitische Ausfälle von Labour-Mitgliedern publik. Auch deswegen werde Corbyn immer wieder vorgeworfen, klammheimlich mit dem Antisemitismus zu sympathisieren, zumindest aber unempfindlich für das Problem zu sein, so Alioth.

Demo in London
Legende: «Genug ist genug»: Immer wieder stelle sich Corbyn auf die Seite von Antisemiten und nicht der Juden, kritisierten jüdische Organisationen den Alt-Linken in einem offenen Brief. Tags darauf folgte eine Demonstration vor dem Parlament in London. Reuters

Der Fall Livingstone

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Legende: Reuters

Alioth nennt ein Beispiel für Labours manchmal laxen Umgang mit antisemitischen Ausfällen in den eigenen Reihen: «Londons ehemaliger Bürgermeister Ken Livingstone behauptete 2016 stur, Adolf Hitler sei auch Zionist gewesen, und berief sich dabei auf irgendwelche Pläne der Nazis einen jüdischen Staat zu gründen.» Die ebenso «gemeine wie dumme Behauptung» habe Livingstone zwar eine Suspendierung, aber nicht den Parteiausschluss eingehandelt – «zum Unmut vieler Kritiker», wie Alioth sagt.

Der Labour-Chef räumte in seinem Schreiben ein, dass sich linke Israel-Kritik manchmal mit Antisemitismus vermische; etwa, wenn das Handeln der israelischen Regierung mit dem der Nazis verglichen werde.

Corbyn
Legende: Corbyn räumte in seinem Schreiben ein, dass es antijüdische Stimmen innerhalb der Labour-Partei gebe. «Es tut mir sehr leid, welchen Schmerz das verursacht hat.» Reuters

Was ist am Vorwurf dran?

Die Gretchenfrage bleibt: Wie hält es Corbyn tatsächlich mit dem Judentum? Ein Teil der Kritik an Corbyn sei von grundsätzlicher Ablehnung gegenüber dem streitbaren Politiker getragen, der auch die eigene Partei spalte, sagt Alioth: «Teile der Labour-Partei instrumentalisieren jede vermeintliche Schwäche, die sie an ihm finden können.»

Aber: Corbyn sehe sich selbst als Gutmenschen, als Freund aller Entrechteten und Anti-Rassisten: «Damit kann er ja per Definition kein Antisemit sein, glaubt er – und deswegen hat er wohl bisher so taub reagiert». Beim Thema Antisemitismus scheine Corbyn schlicht die Sensibilität und das Verständnis zu fehlen, schliesst der SRF-Korrespondent.

Martin Alioth

Martin Alioth

Ehemaliger Grossbritannien- und Irland-Korrespondent, SRF

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Der ehemalige Grossbritannien- und Irland-Korrespondent von Radio SRF lebt seit 1984 in Irland. Er hat in Basel und Salzburg Geschichte und Wirtschaft studiert.

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