«Jeremy Corbyn ist besessen vom Hass auf Israel und den Zionismus»: In einem offenen Brief vom Sonntag werfen jüdische Organisationen dem britischen Labour-Chef Antisemitismus vor. Tags darauf versammelten sich Demonstranten vor dem Parlament in London, um gegen Corbyns vermeintlich antisemitische Gesinnung zu protestieren.
Ich werde niemals etwas anderes sein als ein militanter Gegner des Antisemitismus.
Stein des Anstosses ist ein Graffiti mit unzweideutiger Botschaft, gegen dessen Entfernung sich Corbyn 2012 stark gemacht hatte. Dass die Angelegenheit erst jetzt für Aufregung sorgt, habe mit dem «byzantinischen Umgang» der Labour-Partei mit internen Beschwerden zu tun, berichtet SRF-Korrespondent Martin Alioth: «Die Beschwerde blieb liegen und wurde erst in den letzten Wochen intern wieder zu neuem Leben erweckt.»
Der glühende Anti-Kapitalist Corbyn hatte das Graffiti damals auf Facebook verteidigt. Es solle im Namen der Kunstfreiheit nicht entfernt werden. Nun rechtfertigt sich der Labour-Chef mit dem Argument, er habe damals nicht richtig hingeschaut.
Auf die Vorwürfe reagierte Corbyn am Montagabend – ebenfalls in einem offenen Brief. Darin stellte er klar, dass das Bild eindeutig eine antisemitische Verschwörungstheorie aufnehme. Und: «Ich werde niemals etwas anderes sein als ein militanter Gegner des Antisemitismus.»
Jeremy selbst ist kein Antisemit, aber er hat es zugelassen, dass ihn Antisemiten überall auf der Welt zu ihrem Posterboy gemacht haben.
SRF-Korrespondent Alioth verfolgt Corbyns Politkarriere seit Jahrzehnten. Er sagt: «Corbyn ist ein altmodischer, romantischer Linker, der schon immer auf der Seite irgendwelcher Befreiungsbewegungen stand.» Entsprechend deutlich bezog Corbyn in Vergangenheit auch im Nahostkonflikt Stellung.
Er solidarisierte sich dabei allerdings, wie Alioth berichtet, nicht nur allgemein mit der palästinensischen Sache. Corbyn sei auch für militante Organisationen wie Hamas und Hisbollah eingetreten. «Daraus folgt fast schon automatisch eine scharfe Israel-Kritik, die leicht antisemitische Untertöne annehmen kann.»
Auch aus dem eigenen Lager gibt es Kritik am Parteichef. Die altgediente Labour-Politikerin Margaret Hodge, Tochter jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich, sagt etwa: «Jeremy selbst ist kein Antisemit. Aber er hat es zugelassen, dass ihn Antisemiten überall auf der Welt zu ihrem Posterboy gemacht haben.»
Corbyn sieht sich selbst als Gutmensch, als Freund aller Entrechteten und Anti-Rassist.
Auffällig ist: Seit Corbyn 2015 die Parteiführung übernommen hat, wurden wiederholt antisemitische Ausfälle von Labour-Mitgliedern publik. Auch deswegen werde Corbyn immer wieder vorgeworfen, klammheimlich mit dem Antisemitismus zu sympathisieren, zumindest aber unempfindlich für das Problem zu sein, so Alioth.
Der Labour-Chef räumte in seinem Schreiben ein, dass sich linke Israel-Kritik manchmal mit Antisemitismus vermische; etwa, wenn das Handeln der israelischen Regierung mit dem der Nazis verglichen werde.
Was ist am Vorwurf dran?
Die Gretchenfrage bleibt: Wie hält es Corbyn tatsächlich mit dem Judentum? Ein Teil der Kritik an Corbyn sei von grundsätzlicher Ablehnung gegenüber dem streitbaren Politiker getragen, der auch die eigene Partei spalte, sagt Alioth: «Teile der Labour-Partei instrumentalisieren jede vermeintliche Schwäche, die sie an ihm finden können.»
Aber: Corbyn sehe sich selbst als Gutmenschen, als Freund aller Entrechteten und Anti-Rassisten: «Damit kann er ja per Definition kein Antisemit sein, glaubt er – und deswegen hat er wohl bisher so taub reagiert». Beim Thema Antisemitismus scheine Corbyn schlicht die Sensibilität und das Verständnis zu fehlen, schliesst der SRF-Korrespondent.