«Es ist wie eine Detektivarbeit. Es war ziemlich ausgeklügelt, wie die zwei Angeklagten dies gedreht haben», sagt die Althistorikerin und Papyrologin Anna Dolganov. Sie ist eine der Forscherinnen, denen es gelungen ist, den Inhalt eines Papyrus aus dem 2. Jahrhundert nach Christus zu lesen.
Gefunden wurde dieses Stück schon in den 1950er-Jahren in einer Höhle, vermutlich durch Beduinen in der Judäischen Wüste nahe dem Toten Meer. Doch es wurde damals der falschen Sprachgruppe zugeordnet. Erst kürzlich bei einer Neuinventarisierung wurde klar, dass es sich dabei um einen griechisch verfassten Papyrus handelt.
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Erhaltene Papyri ausserhalb Ägypten sind sehr selten. Und der Inhalt dieses Exemplars ist bis jetzt einmalig: Das Schriftstück ist die «erste Einsicht in die Arbeitsweise der römischen Gerichte im Nahen Osten überhaupt», sagt die Archäologin. «Es sind Konzeptpapiere zweier Anwälte.»
Der rekonstruierte Fall einer versuchten Steuerhinterziehung
Anna Dolganov erzählt, was aus ihrer Sicht vor 2000 Jahren vorgefallen ist und in dem Papyrus festgehalten wird. Es ist eine Steuertrickserei samt Urkundenfälschung durch einen Scheinverkauf. Ein Mann namens Saulos habe vorgegeben, seine Sklaven an einen Freund in der Nachbarprovinz verkauft zu haben, so die Forscherin. Damit seien sie aus der Provinz verschwunden und Saulos musste keine Kopfsteuer mehr für die Sklaven bezahlen. «Weil der Freund sie gar nicht mitgenommen habe, musste er sie in seiner Provinz auch nicht deklarieren.»
Doch – die römische Bürokratie war bereits effizient – die beiden wurden kontrolliert und mussten entsprechende Urkunden vorlegen. Das konnten sie nicht, da der Verkauf fingiert war. Deshalb kommt nun ein bestechlicher Anwalt ins Spiel, auch sein Name ist festgehalten. Er heisst Gadalios. Er hat offenbar geholfen, die benötigten Urkunden zu fälschen, um Steuern zu hinterziehen.
Mit dem Schriftstück bereiten zwei Anwälte die Verteidigung der beiden Angeklagten vor. Dadurch wird klar, dass die Ankläger die Sprache der römischen Verwaltung beherrschten und ins Griechische übersetzte römische Rechtsbegriffe verwendeten.
Die historische Situierung
Durch den zeitlichen Kontext zwischen zwei jüdischen Aufständen gegen die römische Herrschaft, der Diaspora-Revolte (115-117 n. Chr.) und dem Bar-Kochba-Aufstand (132-136 n. Chr.), kommen auch andere Motive als simple Steuerhinterziehung für den Scheinverkauf infrage: «Es kann sein, dass man versucht hat, Juden, die im Rahmen der letzten Revolte in die Sklaverei verkauft worden sind, zurück nach Iudaea zu bringen, damit sie dort am nächsten Aufstand teilnahmen», erklärt die Forscherin.
Auch illegaler Sklavenhandel über die Reichsgrenze und die damit einhergehende Vermeidung hoher Zölle sei ein mögliches Motiv. Das Dokument gebe jedenfalls Einblicke in die Zeit nach der Diaspora-Revolte, über die in der Region bisher wenig bekannt war. «Die römische Verwaltung hat Menschen jedenfalls schnell wegen aufständischer Aktivitäten verdächtigt und argumentiert stark in diese Richtung», sagte Dolganov.
Ob es zu einem abschliessenden Urteil gekommen ist, wissen die Forschenden nicht. Die Anklage bezeuge aber eine sehr angespannte Stimmung, bevor der nächste Aufstand – wahrscheinlich schon in den darauffolgenden Monaten – ausbrach.