Auf den Tag, an dem ihre Liebe kein Verbrechen mehr ist, haben Schwule und Lesben in Indien lange gewartet. Heute ist dieser Tag gekommen: Das oberste Gericht hat das Verbot von gleichgeschlechtlichem Sex abgeschafft. Ein Verbot notabene, das noch auf die Kolonialzeit zurückging. SRF-Korrespondent Thomas Gutersohn erklärt, was das bedeutet.
SRF News: Indiens Justiz hat sich nicht zum ersten Mal mit dem Verbot von Homosexualität befasst. Warum hat es nun für die Legalisierung votiert?
Thomas Gutersohn: Die Richter sagten, dass dieses Gesetz schlicht nicht mehr zeitgemäss sei. Erstaunlicherweise wurde es 2013 noch vom obersten Gericht bestätigt. Doch seitdem hat sich einiges getan in Indien. Vor allem letztes Jahr: Damals wurde das Recht auf Privatsphäre als fundamentales Recht in der Verfassung verankert. Und damit konnten Schwule und Lesben ganz anders argumentieren vor Gericht. Das gab ihnen Rückenwind. Dieses Recht auf Privatsphäre war also sicherlich der Grundstein für das heutige Urteil.
Wie steht es um die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Liebe in der Gesellschaft? Können Schwule und Lesben in Beziehungen offen leben?
Nein, das können sie nicht. Das können auch heterosexuelle Paare nicht. Sich Küssen im öffentlichen Raum, Händchen halten: Das ist in Indien immer noch ein Tabu. Auch in relativ offenen Städten wie in Mumbai zum Beispiel sieht man oft Pärchen am Abend auf ihren Motorrädern oder am Meer sitzen – allerdings meist versteckt hinter einem Baum oder im Schatten einer kaputten Strassenlampe. Denn die Angst, von den Eltern, der Tante oder dem Nachbarn gesehen und dann zu Hause denunziert zu werden, ist schlicht zu gross.
Der Entscheid war eine heisse Kartoffel für den Premier.
Gesellschaftlich sind Pärchen, wenn sie nicht verheiratet sind, noch immer schlecht angesehen. Und diesem sozialen Druck sind natürlich auch gleichgeschlechtliche Pärchen ausgesetzt – wenn nicht noch mehr.
Ist das der Grund, weshalb Indiens Premier Narendra Modi sich aus der Diskussion herausgehalten und den Entscheid der Justiz überlassen hat?
Der Entscheid war sicherlich eine heisse Kartoffel für Modi. Einerseits möchte er sich als Reformer präsentieren; als jemand, der das Land nach vorne bringt. Er hat aber dennoch einen grossen Teil seiner Wähler im erzkonservativen hinduistischen Lager. Und diese religiösen Kreise – hinduistische, aber auch christliche und muslimische Verbände – haben sich gegen eine Lockerung dieses Gesetzes stark gemacht.
Wenn Homosexualität nun gesetzlich erlaubt ist: Wie weit ist man in Indien von der Heirat gleichgeschlechtlicher Paare entfernt?
Davon ist man noch weit entfernt. Bis zur Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Ehen werden noch viele Jahre vergehen. Dennoch ist es der nächste logische Schritt, und es ist klar, dass Schwule und Lesben wie auch Transgender für die Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und Ehen weiterkämpfen werden. Indien bewegt sich in diese Richtung. Insofern ist das Urteil ganz sicher ein Meilenstein in dieser Entwicklung.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.