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«Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen.»
Aus Zeitblende vom 22.08.2020. Bild: KZ-Gedenkstätte Dachau
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Homosexuelle Opfer der Nazis «Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen»

Pierre Seel (1923 – 2005) ist einer der wenigen Homosexuellen, die das KZ überlebt haben. Dem 17-jährigen Elsässer aus gutbürgerlicher Familie wurde 1940 an einem Schwulentreffpunkt die Armbanduhr gestohlen. Den Diebstahl meldete er anderntags der Polizei. So landete er in einer Schwulenkartei. Nach der Machtübernahme von Hitlerdeutschland kam diese Kartei in die Hände der Nazis und Pierre Seel, 18 Jahre alt, ins Konzentrationslager Schirmeck-Vorbruck.

In einem berührenden Buch hat Pierre Seel 1994 seine Geschichte erzählt: die Folter durch die Nazis, die spätere Deportation an die deutsche Kriegsfront, die «Jahre der Scham» nach dem Krieg, den Kampf um Anerkennung als schwules Nazi-Opfer. Die deutsche Übersetzung erschien 1996 im Kölner Jackwerth-Verlag unter dem Titel «Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen».

Den verhängnisvollen Diebstahl seiner Uhr am Steinbachplatz in Mulhouse beschreibt Pierre Seel in seinem Buch so: «Ich lag an jenem Tag in den Armen eines Diebes, als ich spürte, dass meine Uhr sich von meinem Handgelenk löste. Ich schrie auf, aber er hatte sich schon aus dem Staub gemacht. Zu jenem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass dieser triviale Zwischenfall mein Leben zugrunde richten würde.»

Ich lag an jenem Tag in den Armen eines Diebes, als ich spürte, dass meine Uhr sich von meinem Handgelenk löste.
Autor: Pierre Seel KZ-Überlebender

Im KZ Schirmeck-Vorbruck rasierten die Lager-Aufseher dem mittlerweile 18-Jährigen seine langen Haare, die er mit sehr viel Stolz trug, weg. Und in den nun kahlen Schädel ritzten sie das Hakenkreuz. Auf seiner Häftlingskleidung wurde ein rosa Winkel aufgenäht, wie bei allen Häftlingen, die wegen Homosexualität ins Lager kamen. So waren sie für alle anderen Häftlinge sofort als Schwule zu erkennen und deshalb oft Schikanen und Demütigungen ausgesetzt.

Während den Monaten im Lager wurde Seel gezwungen, die Ermordung seines ebenfalls 18 Jahre alten Partners, Jo, mit anzusehen. Die Lageraufseher hatten ihm einen Blecheimer über den Kopf gestülpt und hetzten dann Wachhunde auf den nackten jungen Mann. Diese zerfetzten ihn und frassen ihn teilweise auf.

Schmerzhafte Spritzen in die Brust

Pierre Seel wurde für medizinische Experimente missbraucht. «Meistens bestanden sie aus sehr schmerzhaften Spritzen in die Brust. Bis heute sehe ich die weissen Wände und die weissen Kittel und höre das Lachen der Krankenpfleger. Ungefähr ein halbes Dutzend von uns standen mit nacktem Oberkörper an der Wand aufgereiht. Um ihre Injektionen vorzunehmen, warfen sie mit Vorliebe ihre Spritzen wie kleine Pfeile auf dem Maimarkt in unsere Richtung. Bei einer solchen Behandlung mit Injektionen brach eines Tages mein unglückseliger Nachbar zusammen, er hatte das Bewusstsein verloren. Die Spritze war in sein Herz eingedrungen. Wir sahen ihn nie wieder.»

Schätzungsweise wurden etwa 70'000 schwule Männer aufgrund des von den Nazis verschärften Strafrechts-Paragraphen 175 verurteilt. Und 5000 bis 15'000 wurden wegen Homosexualität in Konzentrationslager gebracht. Die allermeisten von ihnen kamen ums Leben.

Nicht so Pierre Seel. Nach einem halben Jahr von Hunger, Not und Brutalität wurde er aus dem KZ entlassen. Aber das bedeutete nicht die Freiheit. Er wurde gegen seinen Willen in die deutsche Armee eingezogen und an die russische Front geschickt. Auch die Jahre an der Kriegsfront überlebte Pierre Seel, aber er entging mehrere Male nur ganz knapp dem Tod.

Die Jahre der Scham

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte Pierre Seel ausgezehrt nach Frankreich zurück. Es begann das, was er in seinem Buch als die «Jahre der Scham» bezeichnet – die Periode in seinem Leben, in der er wegen der unverheilten psychischen und physischen Wunden mit niemandem über die erlebten Gräueltaten reden konnte – auch nicht über seine Homosexualität.

Wer derart stark und lang gelitten hat wie ich wegen der eigenen Homosexualität, sagt sich irgendeinmal: jetzt mache ich es wie alle anderen und heirate!
Autor: Pierre Seel Im Interview 1998 mit Radio DRS

In einem Interview mit Radio DRS 1998 sagte Pierre Seel: «Wer derart stark und lang gelitten hat wie ich wegen der eigenen Homosexualität, sagt sich irgendeinmal: jetzt mache ich es wie alle anderen und heirate!»

Er schuf sich eine Existenz als Ladeninhaber und sorgte für seine Frau und die drei Kinder. Und er achtete peinlich darauf, mit niemandem über seine Homosexualität und seine traumatischen Erlebnisse während der Verfolgung zu reden.

«Ich werde nie ein fröhlicher Schwuler sein»

Erst 1982 entschloss er sich, sein Schweigen zu brechen. Dass das nach fast vier Jahrzehnten möglich wurde, hat wohl auch damit zu tun, dass sich die Schwulenbewegung in der Gesellschaft mittlerweile Gehör verschafft hatte.

Konkreter Auslöser war aber eine Äusserung von Léon-Arthur Elchinger, Bischof von Strassburg, auf einer Medienkonferenz am 8. April 1982: «Ich betrachte Homosexualität als eine Art Körperbehinderung. Ich respektiere Homosexuelle, wie ich Körperbehinderte respektiere. Wenn sie aber aus ihrer Körperbehinderung etwas Gesundes machen wollen, bin ich damit nicht einverstanden.»

Das wurde der Anstoss zu Pierre Seels Coming-Out, wie man heute sagen würde. Zornig über des Bischofs Äusserung ging er mit einem offenen Brief mutig in den Kampf um Anerkennung: für Schwule in der Gesellschaft, vor allem aber für die Anerkennung von Homosexuellen als kleine, oft vergessene Gruppe von Nazi-Opfern.

Sein Kampf dauerte lange. Aber er hatte Erfolg. 2001 erwähnte der damalige französische Premierminister Lionel Jospin in seiner Rede zum jährlichen nationalen Gedenken an die Kriegsopfer zum ersten Mal auch die homosexuellen Opfer. Und schon ein paar Jahre vorher wurde er vom französischen Staat offiziell als Deportierter anerkannt und erhielt eine Rente von monatlich etwa 1200 Franken.

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Pierre Seel für Benedikt Widmer
aus Zeitblende vom 22.08.2020.
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Er werde nie ein fröhlicher Schwuler sein, sagte er im Gespräch mit Radio DRS 1998, immer ein trauriger Schwuler bleiben: «Je suis peut-être un gay, mais je serai toujours un gay triste, je ne peux pas être un gay gai.»

Pierre Seel verstarb im November 2005. Er war einer der letzten Überlebenden von KZ-Insassen mit dem rosa Winkel.

Kennzeichentafel für Schutzhäftlinge.
Legende: zvg

Die Häftlingskennzeichnungen kurz erklärt

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Die KZ-Häftlinge mussten neben der Häftlingsnummer verschiedenfarbige Winkel auf ihre Jacken und Hosen nähen. Die politischen Gegner der Nationalsozialisten – meist Linke – trugen einen roten Winkel. Grüne Winkel wurden an die sogenannten Berufsverbrecher verteilt. Zu dieser Gruppe gehörten auch viele Menschen, die nicht ins Bild der NS-Gemeinschaft passten. Der blaue Winkel stand für Emigranten, also für deutsche Staatsbürger, die nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 zunächst ihre Heimat verlassen hatten, dann aber zurückgekehrt waren und deswegen unter Spionageverdacht standen. Weil sich die Zeugen Jehovas, die damals als Bibelforscher bezeichnet wurden, weigerten, Mitglied in einer NS-Organisation zu werden, wurden sie verfolgt und mussten in den KZ einen lila Winkel tragen. Homosexuelle Häftlinge erkannte man an einem rosa Winkel. Der schwarze Winkel war für all jene vorgesehen, die in den Augen der Nationalsozialisten als «Asoziale» galten, also zum Beispiel Obdachlose, Bettler oder Menschen ohne feste Arbeit. Jüdische Häftlinge trugen unter dem farbigen Winkel einen umgedrehten gelben Winkel, sodass ein «Davidstern» entstand. (Quelle: arolsen-archives.org)

SRF 4 News, Zeitblende, 22.08.2020

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