Moabit ist ein Stadtteil im Zentrum Berlins, geteilt durch eine grosse Strasse. Geteilt in einen grossbürgerlichen Süden, wo die stuckverzierten Wohnungen über vier Meter hoch sind, und einen türkischen Norden. Ein rauer Bezirk mit Spielhallen, der sich aber allmählich und immer rascher gentrifiziert.
Und in der Mitte sitzt wie ein Ufo eine riesige Justizmaschinerie. Moabit, das ist auch ein Synonym für Gefängnis. Hier sind das grösste Straf- und Verwaltungsgericht Deutschlands untergebracht, ein Amtsgericht, ein Landgericht, Teile der Staatsanwaltschaft und ein Gefängnis.
Das Kriminalgericht aus dem 19. Jahrhundert mit seinen zwei riesigen Türmen hat ein imposantes Treppenhaus, das jeden klein macht. Ein direkter Durchgang führt ins nahegelegene Gefängnis. In diesen Zellen sassen einst auch prominente politische Gefangene der Nazis. Manche der Insassen wurden noch in den allerletzten Kriegstagen erschossen.
Heute agiert hier ein Rechtsstaat. Aber die unheilvolle Vergangenheit ist noch spürbar.
Auch Erich Honecker war in Moabit im Gefängnis. Gleich zweimal. Honecker stand jahrzehntelang an der Spitze der DDR. Er war es, der 1961 den Bau der Mauer bis ins kleinste Detail organisiert hatte.
1935 wurde der Kommunist Honecker von den Nazis verhaftet. Nach dem Zusammenbruch der DDR kehrte er 1992 aus dem Exil in Russland nach Berlin zurück. Genauer: In die Justizvollzugsanstalt Moabit.
Nach dem Fall der Mauer 1989 wurde Honecker in der «Noch-DDR» angeklagt, blieb aber aus gesundheitlichen Gründen unbehelligt und stand unter dem Schutz der sowjetischen Truppen.
Im März 1991 floh er nach Moskau. Doch nach dem Untergang der Sowjetunion Ende 1991 war er auch beim einstigen «grossen Bruder» nicht mehr genehm. Er fand zunächst Zuflucht in der chilenischen Botschaft.
Im Sommer 1992 wurde Erich Honecker an das vereinigte Deutschland ausgeliefert, das ihm den Prozess wegen der an der Mauer erschossenen DDR-Flüchtlinge machen wollte.
Doch das Gericht in Berlin-Moabit kam schliesslich zum Schluss, dass der krebskranke Honecker den Prozess nicht überleben werde. Honecker wurde im Januar 1993 zu seiner Frau nach Chile ausgeflogen. Dort starb er im Mai 1994.
Rückblende. Am 29. Juli 1992 landet der todkranke Erich Honecker aus Moskau kommend in Berlin Tegel.
Noch im Flugzeug werden Honecker Handschellen angelegt. Mit dabei ist Olaf Kühl, der Russlandreferent des Regierenden Bürgermeisters von Berlin. Kühl ist neben dieser Tätigkeit ein preisgekrönter Übersetzer polnischer und russischer Literatur.
Der 29. Juli 1992 ist ein heisser Sommertag. Die Aeroflot-Maschine aus Moskau wird in eine abgelegene Ecke des Flughafens gebracht. Honecker muss sich ausziehen und einer demütigenden medizinischen Untersuchung unterziehen, denn die deutschen Behörden fürchteten, er könnte sich umbringen.
Olaf Kühl hat den Auftrag, die russischen Begleiter Honeckers zu befragen. Diese Begegnung, Auge in Auge mit Erich Honecker, ist zwar eine Fussnote der Geschichte. Aber sie erlaubt einen besonderen Blick auf den einstigen DDR-Staatschef.
Honecker war zwar in der Öffentlichkeit immer ein hölzerner Apparatschik gewesen, der allenfalls unfreiwillig komisch wirkte. Anders als in der öffentlichen Wahrnehmung habe Honecker aber sogar einen diskreten Charme versprüht, erzählt Olaf Kühl von dieser Begegnung, die er auch nach mehr als einem Vierteljahrhundert nicht vergessen hat. SRF-Deutschland-Korrespondent Peter Voegeli hat mit Olaf Kühl darüber gesprochen.
SRF News: Olaf Kühl, Sie wohnen in der Nähe des Gefängnisses Moabit. Wenn Sie hier vorbeikommen, denken Sie an Erich Honecker?
Olaf Kühl: Ja, eigentlich immer. Honecker war ja zweimal hier. In den 1930er-Jahren als kommunistischer Widerstandskämpfer und anfangs der 1990er als verhafteter DDR-Chef.
Das zweite Mal kam Honecker am 29. Juli 1992 aus der Sowjetunion zurück. Sie waren Teil der Delegation, die ihn abgeholt hat. In welcher Funktion?
Ich war damals Dolmetscher des Regierenden Bürgermeisters von Berlin für Russisch, Polnisch und Serbokroatisch. Ich sollte herausfinden, ob Honecker suizidale Neigungen hat. Davor hatte die Polizei Angst. Sie wollten ihn heil nach Moabit bringen und verhindern, dass er sich auf der Fahrt noch irgendwie eine Zyankali-Pille verabreicht.
Ich habe mit dem Flugkapitän gesprochen und auch mit einem russischen Begleiter von der Botschaft. Und die haben alle gesagt, Honecker sei im Gegenteil in einer ausgesprochen heitereren Laune gewesen und entspannt. Und das war auch so.
Was haben Sie da erlebt?
Wir sind zu mehreren an Bord gegangen. Ein Kriminalhauptkommissar, eine Ärztin, ich und vielleicht noch ein weiterer Kriminalbeamter.
Die erste Handlung war, dass der Kriminalhauptkommissar Herrn Honecker verhaftete. Honecker stand vor uns in einem hellen Sommeranzug, hat das über sich ergehen lassen, hat freundlich gelächelt, hat Witze gemacht.
Das war das Komische, weil man hätte ja erwarten können, dass er verbittert oder wütend ist. Nein – er schien sogar ganz froh zu sein, wieder in Berlin zu sein. Er hat eine ganze Reihe Witze gerissen, bei denen ich immer aufpassen musste, dass ich nicht zu sehr mitlache. Ich wollte ja irgendwie neutral erscheinen, nicht mit einem Diktator lachen. Aber manchmal liess sich das fast nicht vermeiden, weil er einen solchen Charme hatte, ein solches Charisma. Das hätte ich nie erwartet.
Man kann sich nur schwer vorstellen, dass Honecker Witze macht. Können Sie sich an einen erinnern?
Das waren trockene Witze. Als man ihm sein Portemonnaie wegnahm, hat er protestiert, aber hat es gleich wieder ins Historische gewandelt und gesagt: ‹Was Sie da machen, das hat noch nicht mal die Gestapo mit mir gemacht. Sogar die haben mir wenigstens mein Geld gelassen.›
Dann fand man bei ihm eine Telefonnummer. Was für eine das sei, fragte man ihn. Worauf Honecker meinte: Die von Bundeskanzler Helmut Kohl. Ich muss mich ja zurückmelden, wenn ich wieder in Deutschland bin. Eine trockene Art von Humor. Immer mit einem ganz subtilen Lächeln auf dem Gesicht.
Er musste sich dann auch nackt ausziehen, die Ärztin wollte ihn am ganzen Körper untersuchen. Er stand dann vor uns in Unterhose, wenn ich mich richtig erinnere. Und er stand da wie jemand, der uns überlegen ist. Der eine natürliche, angeborene Überlegenheit hat.
Das war wahrscheinlich peinlich, wenn der Ex-DRR-Chef sich im Flugzeug ausziehen muss.
Eher peinlich für uns als für ihn. Das ging ja in die medizinischen Einzelheiten. Über seine Herzrhythmusstörungen, über seinen Blutdruck. Er stand mit seiner ganzen Intimität nackt vor uns. Er war trotzdem entspannt und freundlich. Ich weiss nicht, woher er das genommen hat, diese Souveränität.
Wie haben Sie dann geprüft, ob Honecker suizidale Gedanken hatte oder irgendwo eine Zyankali-Kapsel versteckte?
Es gibt ja, das habe ich viele Jahre nachher gelernt, drei Stadien der Suizidalität. Die letzte geht einher mit einer grossen Entspanntheit und Gelassenheit. Mit einem Lächeln, weil man den Entschluss schon gefasst hat und innerlich nicht mehr zerrissen ist. Nur dieses Stadium hätte es sein können, denn er war so heiter und gesprächig.
Vor allem der Flugkapitän hat erzählt, beim Landeanflug auf Berlin habe Honecker die Stadt erklärt. Er sei ausser sich gewesen vor Freude, nach Berlin zurückzukommen. Und diese gefürchtete Zyankali-Pille, die hat man hat ja auch nirgends gefunden.
Das sind die schlimmsten Übeltäter: Die, die daran glauben, dass sie etwas Gutes tun.
Haben Sie mit ihm selber gesprochen?
Das hat die Ärztin gemacht. Ich war ja als Übersetzer dort und habe nur mit der russischen Besatzung und dem Begleiter der Botschaft gesprochen.
Hatten Sie Sympathie für Honecker, damals im Flugzeug?
Sympathie ist vielleicht zu viel gesagt. Aber gar keine Abneigung. Natürlich habe ich vieles mit ihm identifiziert, was ich mit der DDR erlebt hatte. Erniedrigende Grenzkontrollen etwa. Aber ich hatte keinen Groll mehr. Vor allem hat er uns mit dem Bogen zu seiner eigenen Widerstandsgeschichte im dritten Reich seine Persönlichkeit aufgefaltet. Das war nicht mehr nur Honecker, der vielleicht für die Mauertoten verantwortlich war. Sondern ein Mensch mit viel reicherer Geschichte. Da konnte man eigentlich nur staunend davorstehen.
Ich hatte den Eindruck, dass er sich auch deswegen wohlgefühlt hat, weil er sich in guten deutschen «Obrigkeitshänden» wiederfand.
Sie haben einen Artikel geschrieben über diese Begegnung mit Honecker. Und da schreiben Sie am Schluss: Er war einer, der das Gute wollte.
Das glaube ich nach wie vor. Ich denke, dass er überzeugt war, dass er eigentlich das Gute hat erreichen wollen. Er glaubte an den Sozialismus. Das Schlimme ist ja, dass Leute, die das Gute wollen, oft das Böse verursachen. Das sind die schlimmsten Übeltäter: Die, die daran glauben, dass sie etwas Gutes tun.
Sie haben gesagt, Honecker habe gewitzelt, er müsse sich bei Helmut Kohl melden. War das wirklich Humor oder war das vielleicht einfach nur Obrigkeitshörigkeit?
Das kann auch sein. Ich hatte ohnehin den Eindruck, dass er sich auch deswegen wohlgefühlt hat, weil er sich in guten deutschen «Obrigkeitshänden» wiederfand, nachdem ihn die Russen so schmählich ausgewiesen hatten, beziehungsweise die chilenische Botschaft. Da waren endlich wieder Leute, die ihren Dienst taten, nach Vorschrift. Das entsprach seinem deutschen Obrigkeitsdenken.
Viele feiern heute das Jahr 1968, manche denken auch an 1988. Was war das für eine Stimmung, im Sommer 1988? Manchmal sagt man ja, grosse Ereignisse werfen ihre Schatten voraus.
Jeder, der die Ohren offen hatte, ahnte, dass da irgendwas im Schwange war. Ich zum Beispiel bekam einen Anruf von der Akademie der Wissenschaft der DDR, ein Slawist wollte sich mit mir treffen, der Reisekader war. Der erzählte mir, dass alle internen Analysen der DDR katastrophal sind, dass sich das nicht mehr länger als ein Jahr halten kann. Und es gab Leute, die sagten, dass die Wiedervereinigung kurz bevorstehe. Es lag in der Luft – beweisen konnte es niemand.
Das Gespräch führte Peter Voegeli.