2020 war aus humanitärer Sicht ein schwieriges Jahr. Und 2021 wird noch dramatischer. Gemäss UNO wird die Zahl der Menschen, die weltweit auf Nothilfe angewiesen sind, auf 235 Millionen steigen. Das sind rund fünfzig Prozent mehr als im ablaufenden Jahr. Diese Negativentwicklung hängt nicht ausschliesslich, aber sehr stark mit der Coronakrise zusammen. Ein Gespräch mit UNO-Vizegeneralsekretär Mark Lowcock, dem Chef der UNO-Organisation für humanitäre Hilfe.
SRF News: 2020 arbeiteten sie hauptsächlich vom UNO-Sitz in New York aus – Corona-bedingt. Normalerweise sind sie oft im Terrain, wo die Nothilfeoperationen der Vereinten Nationen stattfinden und ein Grossteil ihres Personals stationiert ist. Was hören Sie zurzeit von Ihren Leuten vor Ort?
Mark Lowcock: Ja, ich musste mir dieses Jahr ein Bild machen, indem ich mich in Videokonferenzen meiner Teams einwählte, in Syrien, im Südsudan oder in Burkina Faso. Dabei wurde rasch klar: Die Pandemie trifft jene Länder am schlimmsten, in denen die Lage ohnehin schon dramatisch ist. Und zwar nicht direkt wegen des Virus und der Krankheit, sondern wegen der gravierenden wirtschaftlichen Folgeschäden. Wir befürchten für 2021 Serien von Hungersnöten in zahlreichen Ländern.
Wo ist die Lage besonders übel?
In weiten Teilen Afrikas, im Nahen Osten, aber ebenso in Afghanistan, in Bangladesch, wo die aus Burma geflüchteten Rohingya leben, dann in Venezuela. Die schockierende Erkenntnis ist, dass viele Länder, die glaubten der ärgsten Armut entronnen zu sein, wieder darin versinken.
Wie gross ist der Anteil der Coronakrise an der wachsenden humanitären Not, die ja auch auf Kriege oder Umweltkatastrophen zurückzuführen ist?
Wir gingen Anfang Jahr davon aus, dass 160 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sein würden – wegen Konflikten oder Schäden aufgrund des Klimawandels, also Stürmen, Überschwemmungen oder Dürren. Wegen des Corona-Effekts stieg nun die Zahl der Nothilfebedürftigen auf 235 Millionen.
Der Jemen, Nordostnigeria, Südsudan oder Burkina Faso stehen am Abgrund.
Gleichzeitig sind immer mehr Länder betroffen: Simbabwe, Angola, Mosambik, dazu Teile Zentralamerikas. Wir hoffen nun, dass sich 2021 die reichen Länder wirtschaftlichen erholen. Diese positiven Effekte sollten allmählich durchsickern zu den armen Ländern. Doch ich fürchte, das braucht viel Zeit.
Sie beziffern den Mittelbedarf Ihrer Organisation für 2021 auf 35 Milliarden Dollar. Was planen Sie, damit zu tun?
Wir rechnen damit, etwa 160 der insgesamt 235 Millionen Hilfsbedürftigen helfen zu können. Wir versuchen, möglichst viele der drohenden Hungersnöte abzuwenden. Bisher gab es im 21. Jahrhundert erst eine grosse Hungersnot, in Somalia. Doch der Hunger kehrt nun zurück.
Länder wie Jemen, Nordostnigeria, Südsudan oder Burkina Faso stehen am Abgrund – da müssen wir ansetzen. Fortsetzen wollen wir unsere Programme für die Gesundheitsversorgung, für Notunterkünfte und vor allem zur Unterstützung der immer mehr Menschen, die wegen Kriegen, Konflikten oder Naturkatastrophen innerhalb ihres Landes vertrieben wurden.
Schon bisher verhallten Ihre Hilfsaufrufe teilweise ungehört. Staaten versprachen oft mehr als sie dann tatsächlich zahlten. Nun müssen, wegen Corona, auch wohlhabende Länder zig Milliarden zur Rettung ihrer eigenen Wirtschaft aufwerfen – wird es für die Uno nun noch schwieriger, an Hilfsgelder zu gelangen?
2018 bekamen wir 16 Milliarden Dollar, 2019 waren es 18 Milliarden und 2020 sind es 20 Milliarden. Die Zuwendungen steigen also. Das Problem: Die Bedürfnisse steigen noch viel schneller. Die Schere öffnet sich also.
Bemerkenswert ist doch, dass viele Milliardäre in der Coronakrise noch reicher geworden sind. Wenn bloss einige unter ihnen den Ärmsten und Verzweifelten hälfen, würde das viel bewirken.
Natürlich sind wir besorgt, weil viele reiche Länder nun selber wirtschaftliche Probleme haben. Es sind lediglich zehn Staaten, die gegen 90 Prozent unseres Budgets finanzieren. Wir müssen eine bessere Lastenteilung erreichen. Und zugleich bei den Ursachen der wachsenden humanitären Not ansetzen.
Sehen Sie eine reelle Chance, dass künftig weitere Staaten, aber auch reiche Einzelpersonen, Firmen oder Stiftungen mehr zahlen?
Das ist 2021 für uns eine Priorität. Wir sprachen eben in der Uno-Führung darüber, wie wir zusätzliche Quellen anzapfen können. Bemerkenswert ist doch, dass viele Milliardäre in der Coronakrise noch reicher geworden sind. Wenn bloss einige unter ihnen den Ärmsten und Verzweifelten hälfen, würde das viel bewirken. Wir suchen nun das Gespräch mit ihnen.
Wie gross schätzen Sie die Gefahr ein, dass nun zwar in den wohlhabenden Ländern die Bevölkerung rasch geimpft wird, jedoch noch lange nicht in den armen Weltgegenden?
Es ist grossartig, dass so rasch Impfstoffe entwickelt wurden. Und es ist nachvollziehbar, dass zunächst dort geimpft wird, wo die Impfungen entwickelt wurden – oft mithilfe von Geldern der Steuerzahler. Aber es wäre klug, wenn alle einsähen, dass niemand sicher sein kann auf der Welt, wenn nicht alle sicher sind, also Zugang zu Impfungen haben. Es liegt also in aller Interesse, Impfstoffe fair zu verteilen, damit alle bald Zugang bekommen.
Sie fürchten, dass die Coronakrise den Fortschritt von Jahrzehnten bei der Bekämpfung von Hunger und extremer Armut in kürzester Zeit zunichtemacht…
Zum ersten Mal seit mehr als zwanzig Jahren wächst die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, wieder kräftig. Wir rechnen mit 150 Millionen. Vor fünfzig Jahren lebte mehr als jeder und jede zweite weltweit in äusserster Armut; inzwischen sind es weniger als zehn Prozent.
Wir dürfen nicht wegen Corona den Kampf gegen den Klimawandel vernachlässigen.
Doch dieser Anteil steigt nun wieder markant an. Die Lebenserwartung sinkt mancherorts. Aids, Malaria, Tuberkulose sind erneut auf dem Vormarsch. Das heisst: Wir sehen eine grosse Wende zum Schlechten. Das führt zu Instabilität, zu Konflikten. Die ganze Welt wird den Preis dafür bezahlen.
In der Coronakrise wäre internationale Zusammenarbeit entscheidend. Tatsächlich befeuert sie aber vielerorts den Nationalismus, das Prinzip «Jeder schaut für sich». Hat die Krise die UNO gestärkt oder geschwächt?
Zunächst sahen wir viel Unterstützung, auch finanzielle, für die UNO-Anstrengungen im Kampf gegen die Pandemie. Es gibt Solidarität. Wir sehen aber auch das Gegenteil. 2021 wird entscheidend. Vor allem dürfen wir nicht wegen Corona den Kampf gegen den Klimawandel vernachlässigen. Diesen müssen wir gewinnen, wollen wir verhindern, dass immer mehr Menschen wieder Not leiden.
Das Gespräch führte Fredy Gsteiger.