SRF News: Wie ist die aktuelle Lage der Menschen in Syrien?
Jakob Kern: Sie ist immer noch sehr schlecht und nicht besser geworden. Gleiches erwarten wir für das kommende Jahr. Zwei Drittel der Bevölkerung sind immer noch auf humanitäre Hilfe angewiesen. Zehn Millionen Menschen brauchen Lebensmittelhilfe in verschiedenen Formen. Die Bedürfnisse sind nicht zurückgegangen. Im Gegenteil. Nach sieben Jahren Krieg haben die Menschen praktisch alle Reserven aufgebraucht. Viele haben sogar ihre Möbel verbrannt, um in den belagerten Gebieten zu kochen.
Erstmals haben Hilfskonvois das Rebellengebiet Ost Ghuta erreicht, wo Bilder über verhungernde Kinder die Welt seit Wochen entsetzen.
Ost Ghuta östlich von Damaskus ist das letzte der belagerten Gebiete. 400'000 Menschen sind dort eingeschlossen. Zum Vergleich: Anfang 2016 zählte man noch 18 belagerte Gebiete mit über einer Million Menschen. Jetzt wird es Winter und die Lage in Ghuta wird immer schlimmer, denn es kann nichts mehr gepflanzt werden. Die Menschen in der ehemaligen Landwirtschaftszone haben nichts mehr. Die Familien kürzen das Essen auf eine Mahlzeit pro Tag und behandeln die Kinder mit Vorrang, während Erwachsene oft tagelang nicht essen. Milch und frische Nahrungsmittel sind praktisch nicht mehr vorhanden oder nur zu Preisen, die niemand zahlen kann.
Laut UNO hat das syrische Regime dieses Jahr den Grossteil der Gesuche für Zugang abgelehnt. Wie gehen Sie persönlich damit um?
Es ist sehr frustrierend. Ich wartete auch schon während 20 Stunden in einem Konvoi am letzten Checkpoint. Es braucht sehr viel Geduld und Hartnäckigkeit. Die Konvois machen etwa einen Zehntel unseres gesamten Programms aus. Das World Food Program (WFP) unterstützt in Syrien vier Millionen Menschen mit monatlichen Lebensmitteln. Diese Lieferungen sind sehr zuverlässig, da wir auch die Bewilligungen dafür bekommen. Sie gehen zum Teil über die Grenze in Rebellengebiete und zum Teil von Syrien in die von der Regierung kontrollierten Gebiete. Das läuft wie eine Uhr. Es sind die belagerten Gebiete, bei denen die Bewilligungen nur sehr sporadisch eintreffen.
Sie waren in den letzten acht Tagen im ganzen Land unterwegs. Ist Ost Ghuta ein Einzelfall?
Ost Ghuta ist zwar das einzige noch belagerte Gebiet. Aber es gibt noch sehr viele Syrer, die in der gleichen Situation sind. Wir haben im Moment keinen Zugang zu ungefähr drei Millionen Menschen, die schwierig zu erreichen sind. Sie werden zwar nicht belagert, aber sind entweder hinter einer Frontlinie oder in noch umkämpften Gebieten.
Im äussersten Osten des Landes an der Grenze zu Irak und der Türkei leben hunderttausende Flüchtlinge aus den früheren IS-Hochburgen Rakka und Deir ez-Zor in Zelten auf einer Hochebene bei Temperaturen um null Grad und Wind. Sie können mangels gültiger Papiere und mangels Geld für einen Transport nach Aleppo oder Damaskus nicht weiter. Diese Menschen brauchen unsere Hilfe mehr denn je.
Ein Blick auf die internationale Berichterstattung erweckt den Eindruck, der Krieg gehe zu Ende. Die Kämpfe sind aber doch noch nicht vorbei?
Das stimmt. Es gibt immer noch Gebiete, in denen gekämpft wird wie Ost Ghuta. Auch der ganze Nordwesten ist noch unter Kontrolle von Rebellen, die sich zum Teil auch gegenseitig bekämpfen. Der IS mag zwar bekämpft sein, aber das heisst nicht, dass die einzelnen ISIS-Kämpfer einfach verschwunden sind. Wir erwarten jetzt mehr Selbstmordanschläge im ganzen Land.
Wir erwarten jetzt mehr Selbstmordanschläge im ganzen Land.
Die humanitäre Lage wird sich sicher nicht von einem Tag auf den anderen verbessern. Die Lebensmittelhilfe braucht es also noch lange. Wir haben bereits damit begonnen, Projekte zu machen, die den Menschen einen Lebensunterhalt ermöglichen und sie nicht nur am Leben halten. Geräte und Saatgut wurden verteilt, aber auch Bienenstöcke und Ausrüstung. Solche Projekte werden zunehmen, damit wir die direkte Nahrungsmittelhilfe allmählich abbauen können.
Das World Food Program kämpft mit Geldproblemen. Wie geht man damit um?
Es ist etwas frustrierend. Noch frustrierender ist, dass wir bis letztes Jahr relativ wenig Zugang zu den Menschen hatten. Damals machten die potenziellen Geber Mittel von der besseren Erreichbarkeit ab. Nun erreichen wir fast alle Menschen in Syrien, haben aber kein Geld. Denn nach sieben Jahren denken viele Geberländer, sie hätten genug getan. Es ist allerdings ein grosses Programm, vier Millionen Menschen mit Lebensmitteln zu versorgen. Das kostet jeden Monat 50 Millionen Dollar.
Das Gespräch führte Christoph Kellenberger.