Es war eine Hungersnot, die die Leute brechen sollte. Zwischen 1932 und 1933 verhungerten nach neusten Schätzungen vier Millionen Ukrainer, vor allem Bauern. Sie starben, weil die Sowjetmacht unter Josef Stalin sie zur Aufgabe ihrer Höfe zwang und ihnen die Lebensmittel wegnahm.
Diese Hungerkatastrophe hat einen Namen: «Holodomor». Sie hat sich tief in das kollektive Bewusstsein der Ukraine eingebrannt, konnte aber erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erforscht werden. Eine Historikerin, die sich mit dem «Holodomor» auseinandergesetzt hat, ist Anne Applebaum.
SRF News: Der «Holodomor» ist ein gigantisches Verbrechen, das sich in Europa abspielte und in unserem kollektiven Bewusstsein verankert sein sollte. Trotzdem wissen wir kaum etwas darüber. Wie ist das möglich?
Anne Applebaum: Zunächst muss man verstehen, was der «Holodomor» war. Er war nicht eine zufällige Folge der Kollektivierung, der Zwangsenteignung der Bauern. Er wurde vielmehr vorsätzlich herbeigeführt. Gruppen von Parteiaktivisten gingen von Haus zu Haus und beschlagnahmten Nahrungsmittel. Und es ist wichtig zu wissen, dass das Geschehen danach vertuscht wurde. Der sowjetische Staat sorgte dafür, dass man nicht öffentlich über die Hungersnot sprach und dass auch keine ausländischen Journalisten darüber schrieben. Das ging auch nach dem Krieg so weiter.
Die Sowjetunion war bis zu ihrem Zusammenbruch bemüht, ihre Version der Geschichte durchzusetzen.
Als in den 80er-Jahren das erste Buch dazu auf Englisch erschien, stellte Moskau sicher, dass ein anderes englisches Werk zum Thema publiziert wurde, welches das erste infrage stellte. Die Sowjetunion war also bis zu ihrem Zusammenbruch bemüht, ihre Version der Geschichte durchzusetzen.
Wie kann man sicher sein, dass sich die Dinge tatsächlich so abgespielt haben, und dass die Zahl der rund vier Millionen Toten stimmt?
Die Akten über die Hungersnot in der Ukraine und in Russland existieren immer noch. Als die Archive in den 90er-Jahren zugänglich wurden, begannen ukrainische Historiker zu forschen. Sie trugen eine verblüffende Anzahl von Dokumenten zusammen. Kompliziert wird es bei den Zahlen. Viele wurden gefälscht.
Ukrainische Demografen haben nun alle vorhandenen Statistiken miteinander abgeglichen und eine Opferzahl vorgelegt: Sie kommen auf 3.9 bis 4 Millionen. Abgesehen davon existieren Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefe. Es gibt also sehr viel Beweismaterial.
Wie kann es sein, dass eine Regierung ihr Volk gezielt verhungern lässt?
Zuerst wurde der Boden dafür bereitet. Das Sowjetregime sorgte mittels Propaganda und Schuldzuweisungen dafür, dass die Menschen in den Städten die Landbevölkerung zu hassen begannen: «Deine Familie leidet, weil diese ungebildeten Bauern dein Korn nehmen. Sie zerstören deinen Staat.»
Stalin dachte, dieses Problem lösen zu können, indem er die ukrainische Landbevölkerung eliminierte und sie mit Russen oder Menschen aus anderen Teilen der Ukraine ersetzte.
Die Sowjets boten den Leuten Vorteile, wenn sie einwilligten, den Bauern Essen zu stehlen. Die Mittäter waren aber auch von Furcht getrieben, dass sie sterben würden, wenn sie nicht mitmachten.
Was wollte die sowjetische Führung damit erreichen?
Stalin hatte Angst vor dem revolutionären Potenzial der ukrainischen Landbevölkerung, vor deren Nationalbewusstsein überhaupt. Er glaubte, dass die Ukraine die Sowjetunion destabilisieren könnte. Und er dachte, dieses Problem lösen zu können, indem er diese Menschen eliminierte und sie mit Russen oder Menschen aus anderen Teilen der Ukraine ersetzte. Er hat das Problem auch gelöst, vorerst. Ironischerweise war einer der Gründe für den Zusammenbruch der Sowjetunion die Ukraine, die unabhängig sein wollte.
Das Gespräch führte Judith Huber.