Weiss gestrichene Häuser mit roten Ziegelsteindächern und gepflegten Vorgärten, eingebettet in Mais- und Sonnenblumenfelder: Das ist Idomeni. Das kleine Dorf mit überwiegend älteren Einwohnern ist wie leergefegt. Nur der 80-jährige Christos Kovátsis steht vor einem Gartenzaun und redet mit einer älteren Frau. Sie solle ihm doch bitte auch ein Laib Brot kaufen, wenn der Bäcker vorbeifahre, ruft er ihr zu.
Dass Idomeni wieder zum ruhigen Örtchen von einst geworden ist, findet er grossartig: «Wir schlafen jetzt wieder mit offener Haustür. Sonst mussten wir immer rechts und links schauen, ob jemand da ist.» Wenn ein Haus kein Licht anhatte, seien die Flüchtlinge hineingegangen. «Sie hatten ja Hunger, haben Hühner gestohlen und die Mandeln und Kirschen von den Bäumen gepflückt. Sonst taten sie nichts; wir Dorfbewohner aber hatten Angst. Wir sind ja alles alte Menschen.»
Dann verabschiedet sich Kovàtsis und ruft mir noch hinterher, ich solle unbedingt das Kafenio, das Dorfcafé am Rande von Idomeni besuchen, da würde ich weitere Dorfbewohner finden. Das Kafenio liegt wenige Meter vom Güterbahnhof von Idomeni entfernt. Bis zu den Gleisen weitete sich einst das wilde Camp von Idomeni aus. Über zwei Monate lang war deshalb die Zugverbindung nach Mazedonien unterbrochen. In der Wartehalle des Bahnhofs erinnern heute nur noch ein paar zerbrochene Fensterscheiben an die Ausnahmesituation von damals.
Einheimischer: «Hier haben einige gut verdient»
Zelte aber gibt es weit und breit keine mehr. Im Kafenio sitzen eine Handvoll älterer Männer und trinken ihren Ouzo. Unter ihnen Giorgos Moutaftzidis. Noch im Mai wäre das unmöglich gewesen, sagt der über 70-Jährige. «Es gab doch keinen Platz hier, es war alles voll. Um einen Ouzo trinken zu können, musste ich in ein anderes Dorf fahren. Klar haben hier einige gut verdient; dieses Café, das Geldwechselbüro gegenüber, der Minimarkt. Sie haben richtig fette Kohle gemacht, aber auf wessen Kosten? Auf meine!»
Diese Aufregung der älteren Dorfbewohner kann der Inhaber des Kafenio, Vangelis Grozidis, nicht verstehen. Fünf Jahre lang hat der 55-jährige Familienvater zwischen der nächstgelegenen Grossstadt Kilkis und Idomeni gependelt. Erst als es mit den Flüchtlingen viel zu tun gab, entschloss er sich, samt Familie in seinen Herkunftsort zu ziehen. «Als die Grenze geschlossen wurde, kamen die Leute anfänglich noch mit 500-Euro-Scheinen in den Laden. Hier war die Hölle los! Der Umsatz, den wir hatten, war verrückt. Sie haben sehr gerne Hähnchen gegessen. Und Kartoffeln.»
Eines Tages habe er keine Pommes frites mehr gehabt, so Grozidis. «Und bis zur Lieferung haben mein Sohn und ich acht grosse Säcke Kartoffeln geschält. Können Sie sich das vorstellen? Ich rede von 20-Kilo-Säcken!» Dass es irgendwann vorbei sein würde, damit habe er schon gerechnet, gesteht der kleine Mann im blauen T-Shirt. Dass das Camp allerdings so plötzlich geräumt würde, das konnte er sich nicht vorstellen. In den Monaten, in denen die Flüchtlinge da waren, habe er aber nicht nur gut verdient. Er habe auch tolle Menschen kennengelernt, sagt Grozidis.
Berührende Geschichten, neue Freundschaften
«Wir haben Freundschaften geschlossen. Meine Nachbarin hatte monatelang Flüchtlinge bei sich wohnen. Auch sie war traurig, als sie gehen mussten. Wenn du die Geschichten dieser Menschen gehört hättest, wärst du verrückt geworden», so Grozidis. «Ein Syrer, mit dem ich noch Kontakt habe, erzählte mir damals, wieso er geflohen war: Eines Tages habe er nach der Arbeit sein Haus in Trümmern vorgefunden.» Tagelang habe er nach den Überresten seiner Frau und seiner drei Kinder gesucht. «Andere schilderten uns, wie Kinder vor ihren Augen ermordet wurden. Wie sollten denn diese Menschen unter solchen Umständen in ihrer Heimat bleiben? Es blieb ihnen doch nichts anderes übrig, als zu fliehen!»
Nach dieser Erfahrung mit den Flüchtlingen sei er dankbar, in Frieden leben zu dürfen, sagt Grozidis. Und auch wenn die Flüchtlinge weg sind: Seine Entscheidung, ins Dorf zu ziehen, bedauert der 55-Jährige nicht. Hier sei das Leben eh viel preiswerter als in der Stadt – auch wenn er jetzt viel weniger verdient. Zumindest seine alte Kundschaft hat er nun, nach der Räumung des Lagers, wieder.