IKRK-Präsident Peter Maurer besuchte diese Woche das von Gewalt erschütterte Libyen. Ein Land, in dem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des internationalen Roten Kreuzes gezielt angegriffen wurden, weshalb die Tätigkeit weitgehend eingestellt werden musste. Doch nun will Maurer die Aktivitäten in Libyen deutlich ausbauen, sagt er im Gespräch mit SRF News: Die humanitären Bedürfnisse seien gewaltig, die Arbeit sei wieder möglich.
SRF News: Sie kehren gerade aus Libyen zurück. Was waren Ihre wichtigsten Eindrücke?
Peter Maurer: Libyen ist nicht das Land, das zuoberst auf der Traktandenliste steht. Es ist ein Land, das unter verschiedenen Autoritäten zerrissen ist und in dem weiterhin Krieg herrscht. In Libyen findet eine der grössten Vertreibungen der Gegenwart statt; viele Menschen wurden intern vertrieben. Die Not und Zerstörung ist gross. Das hat sich in Benghasi und den Vororten der Stadt gezeigt, die ich besucht habe.
Das humanitäre Völkerrecht wird ständig verletzt – von allen Seiten.
Das Land hat grosse Schwierigkeiten. Gleichzeitig ist es ein Land, das immer noch Öleinkommen hat und reich ist. Die Bevölkerung ist ausgebildet. Ich bin zum Schluss gekommen, dass wir mehr machen können – aber vielleicht auf eine andere Weise als in anderen Kontexten.
Sie sagen es: Libyen ist ein relativ wohlhabendes Land. Was sind konkret die humanitären Bedürfnisse, die es trotzdem gibt?
Diese liegen primär im Gesundheitssektor. Viele Spitäler funktionieren nicht adäquat; viele Ärzte und Krankenschwestern sind selbst vertrieben worden. Wegen der grossen Zahl Vertriebener ist natürlich auch die ökonomische Situation für diese Menschen problematisch. Wir werden uns stärker engagieren, um diese Vertriebenen wieder nach Hause zu bringen.
In Libyen sitzen zudem sehr viele Menschen im Gefängnis. Seien es Migranten oder Gegner der jeweiligen Kriegsparteien. Wir bemühen uns, Zugang zu diesen Haftanstalten zu erhalten und auch den Angehörigen von Vermissten etwas Sicherheit zu geben. Schliesslich wird das humanitäre Völkerrecht ständig verletzt – von allen Seiten. Insbesondere die Zivilbevölkerung steht zwischen den Fronten und leidet. Wir sind aufgefordert, mit allen Kriegsparteien in Kontakt zu sein.
Wenn man von humanitären Bedürfnissen in Libyen spricht: Betrifft das vor allem die einheimische Bevölkerung oder auch die vielen Migranten, die Libyen als Durchgangsstation nach Europa benutzen?
Beide Bevölkerungsgruppen wurden stark vom Konflikt beeinträchtigt. Ich bin überrascht zu sehen, wie viele Libyer selber unter der Situation leiden. Prozentual gemessen ist Libyen das Land mit der grössten Zahl an intern vertriebener Bevölkerung weltweit. Zusammen kreieren die beiden Bevölkerungsgruppen ein explosives Gemisch.
Wir werden weiterhin in einem Land operieren, das ausserordentlich gespalten und ausserordentlich gefährlich ist.
Libyen ist gleichzeitig Ziel- und Transitland nach Europa. Viele Migranten versuchen in der Erdölindustrie zu arbeiten; gleichzeitig sind hunderttausende Libyer selbst vertrieben, die Infrastruktur zerfällt. Es ist keine Regierung da, die Gegensteuer geben könnte. Aufgrund dieser Situation denke ich, dass wir uns stärker engagieren müssen.
Libyen ist politisch sehr gespalten. Hatten Sie bei Ihren Begegnungen den Eindruck, dass alle Akteure im Land einverstanden sind oder das IKRK sogar auffordern, mehr zu tun?
Mindestens meine Gesprächspartner in dieser Woche waren einhellig in ihrer Botschaft, dass sie vom IKRK mehr erwarten. Wir hoffen, dass wir heute einen breiteren politischen Konsens haben, in Libyen tätig zu sein. Wir werden das mit aller gebotenen Vorsicht angehen. Aber wir werden auch mit Entschiedenheit versuchen zu helfen. Mit dieser Botschaft kehre ich zurück.
Das IKRK konnte nach Attacken auf seine Mitarbeiter zeitweise nicht mehr in Libyen tätig sein. Ist die Sicherheitslage inzwischen so, dass sie guten Gewissens wieder im Land aktiv sein können – und vielleicht sogar mehr leisten können?
Wir sind zuversichtlich, dass wir sichere Räume schaffen, in welchen auch wieder mehr Experten nach Libyen gelangen können. In diesem Sinne bin ich zuversichtlich, dass es uns gelingt, eine gute Operation aufzubauen. Allerdings werden wir weiterhin in einem Land operieren, das ausserordentlich gespalten und ausserordentlich gefährlich ist.
Libyen unterliegt einem Sanktionsregime. Vor allem Waffen dürfen nicht dorthin geliefert werden. Offenbar scheint dieses Sanktionsregime ungewollt Konsequenzen für die humanitäre Arbeit zu haben?
Sanktionen beeinträchtigen zum Beispiel die Entminungsarbeit. Diese ist absolut zentral, damit die Menschen die Zuversicht haben, auch wieder in ihre Häuser zurückzugehen. Also müssen wir Minensuchinstrumente und solche, die uns erlauben, die Minen aus dem Boden zu nehmen, ins Land bringen.
Wir können und wollen keine politische Vermittlungsrolle in Libyen übernehmen.
Das sind aber alles Güter, welche heute auf Sanktionslisten stehen. Wir hoffen, dass wir internationale Gremien, die Sanktionen beschlossen haben, überzeugen können, humanitäre Ausnahmen zu beschliessen.
Kann das IKRK als neutrale Instanz auch eine Vermittlungsrolle in Libyen spielen?
Wir können und wollen keine politische Vermittlungsrolle übernehmen. Allerdings glauben wir, dass schon die Schaffung neutraler humanitärer Räume ein positiver Schritt ist und es vielleicht ermöglicht, dass politische Akteure politische Verhandlungen führen können.
Das Gespräch führte Fredy Gsteiger.