Sie haben keinen Schulabschluss, sie haben keinen Beruf gelernt, sie sind aus Not kriminell. Mit diesen Jugendlichen aus dem Slum von Kenias Hauptstadt Nairobi hat der Zürcher Gianmarco Marinello eine Firma gegründet. «Es gibt in Nairobi eine ganze Generation von jungen Menschen, die keine Chance haben, eine geregelte Arbeitsstelle zu ergattern, obwohl sie faszinierende Fähigkeiten haben», sagt der 32-Jährige.
Die Strasse als Schule des Lebens
Marinello hat in Nairobi ein Nachdiplomstudium in sozialer Innovation absolviert und in den Slums geforscht. Am meisten benachteiligt sind ehemalige Strassenkinder, die oft die Schule abgebrochen haben. Im Gespräch mit diesen Jugendlichen hat er ihr Potential erkannt. «Wir schauten zu ihnen hoch, sie hatten so viel Lebenserfahrung und Fähigkeiten, die sie sich auf der Strasse erworben haben», erzählt Marinello.
So entstand die Geschäftsidee von «Nai Nami» . Es bedeutet so viel wie «Nairobi mit mir». Und genau darum geht es: Die Jugendlichen – alles ehemalige Strassenkinder – entwickelten Führungen für Touristen im Stadtzentrum, wo sie an den Schauplätzen ihre Lebensgeschichte erzählen.
Schonungslose Lebensgeschichten
Auf der dreistündigen Tour erfahren die Touristen, wie sie auf der Strasse endeten, wie sie als Strassenkinder in Downtown Nairobi gross geworden sind, wo sie übernachteten, bettelten, klauten und sonstige Erlebnisse gemacht haben. Sie bringen damit den Touristen die Stadt durch ihre Augen näher.
«Wir machen keine Slum-Touren und stellen auch kein Elend zur Schau», betont Marinello. Es geht um einen Austausch, um eine persönliche Begegnung. Letzten Sommer sind sie gestartet und das Angebot kommt an. Rund 80 Gäste werden pro Monat durch die Stadt geführt. 28 Franken kostet die Tour, ein gemeinsames Essen ist jeweils inbegriffen.
Erstmals ein geregelter Job
Die Einnahmen reichen, um den Jugendlichen einen mittelständigen Lohn zu zahlen. Für sie ist es die erste permanente und geregelte Arbeitsstelle überhaupt. Drei der fünf Jugendlichen konnten dadurch bereits das Slum verlassen.
Wir wollen zeigen, dass auch diese Jugendlichen Erfolg haben können, wenn man auf ihre Stärken baut.
Er selber zahlt sich keinen Lohn aus, investiert sein Erspartes. «Wir müssen jetzt Mittel in Werbung und Marketing stecken.» Er glaubt, dass man in der Hochsaison 500 Gäste pro Monat begrüssen könnte. Und damit auch weiteren Jugendlichen eine Stelle und ein Einkommen ermöglichen kann.
Die Vision von «Nai Nami» ist, dass ihr Ansatz auch in anderen Städten angewendet wird. «Wir wollen zeigen, dass auch diese Jugendliche Erfolg haben können, wenn man auf ihre Stärken baut.»
Kissmart hat es aus dem Slum geschafft
Im Alter von fünf Jahren rannte Kissmart von Zuhause weg, da seine Mutter einen gewalttätigen Lebenspartner hatte. Dieser drohte ihn umzubringen. Er begann in der Stadt zu betteln und schloss sich im Alter von sieben einer Gang an. Wie die meisten Strassenkinder begann er Leim und Kerosin zu schnüffeln und handelte mit Drogen.
Seine Tante nahm ihn für eine gewisse Zeit zu sich aufs Land, wo er die Primarschule abschliessen konnte. Danach ging er wieder nach Nairobi und überlebte durch Raubüberfälle und Entreissdiebstähle von Handys. Er lebt im Slum Mathare. Im Alter von 17 Jahren wurde sein bester Freund von der Polizei erschossen, woraufhin er zum Broker von gestohlener Ware wurde.
Ein regelmässiges Einkommen und eine Arbeit ändert alles: Man beginnt erst jetzt damit, sein Leben zu planen und sich Ziele zu setzen.
Kissmart ist einer der Mitbegründer von «Nai Nami». Die Arbeit ermöglicht ihm ein regelmässiges Einkommen. Er konnte jetzt aus dem Slum ziehen. «Ein regelmässiges Einkommen und eine Arbeit ändert alles: Man beginnt erst jetzt damit, sein Leben zu planen und sich Ziele zu setzen», schildert er im Interview mit SRF seine Veränderung.