Menschen aus halb Europa verrenken sich den Hals auf dem Marktplatz von Posen – um zwei sture Böcke zu sehen. Die vielen Touristen stehen vor dem alten Rathaus. Punkt zwölf Uhr mittags erscheint ein Mann mit Trompete auf dem Turm. Nach den ersten Klängen öffnet sich hoch oben an der Fassade ein Türchen und das Glockenspiel lässt zwei weisse Ziegenböcke aus Holz erscheinen. Zu den Klängen der Trompete kämpfen die beiden gegeneinander.
Damit ist schon viel erzählt: Posen ist für ausländische Touristen attraktiv. Und hier kämpft man. Früher, als Posen deutsch beherrscht war, gegen Otto von Bismarck. Der preussische Ministerpräsident liess die Polen in Posen ihre Kultur, ihre Sprache nicht leben.
Bürgermeister und Boxer in einer Person
Heute kämpft hier Bürgermeister Jacek Jaśkowiak. Er hat ein lädiertes Auge, denn Jacek Jaśkowiak ist auch Boxer. «Das hält mich in Form», sagt er, der fliessend Deutsch spricht. Auf einem Fensterbrett des riesigen Büros steht ein Foto. Zwei nackte Oberkörper, eine Faust landet mit Wucht auf dem Bauch des Bürgermeisters.
«Boxen ist wie Politik», findet Jacek Jaśkowiak. Der Gegner in der Politik heisst im Moment «Recht und Gerechtigkeit», kurz PiS. So nennt sich die Partei, die seit vier Jahren Polen regiert. Die meisten der 500'000 Einwohner von Posen wählen aber nicht die PiS, sondern ihre Rivalen, vor allem die Partei «Bürgerplattform» von Jacek Jaśkowiak. Sie sind nicht einverstanden mit der Regierungspartei PiS.
Die PiS will Richter, die es gut meinen mit ihr. Journalistinnen und Journalisten, die applaudieren. Die Partei vermischt Kirche und Staat. Hetzt – auch gegen Schwule und Lesben. «Ähnlich wie man früher gegen Juden gehetzt hat», sagt Jacek Jaśkowiak. Er schlägt zurück. Geht mit, wenn Homosexuelle unterwegs sind für mehr Toleranz in seiner Stadt – und er hat der Kirche verboten, ein riesiges Jesus-Denkmal in einen Posener Park zu stellen.
Es geht um den Sieg – sonst droht der K.O.
Am 13. Oktober wählt ganz Polen. Da geht es um den Sieg oder den K.O. Das glaubt zumindest der Bürgermeister. Entweder Polen ende als Halb-Diktatur wie Russland, sagt er. «Oder wir entscheiden uns für Europa, für diese Zivilisation, mit diesen Rechten und Werten.»
Gewisse Leute in Kleinstädten und Dörfern waren nicht zufrieden. Das hat PiS ausgenützt.
Würden nur die Städte und der Westen Polens wählen: Die PiS würde verlieren. Sie regiert in Polen keine einzige grössere Stadt und schneidet nicht besonders gut ab in Westpolen. Sie gewinnt dafür im Osten und auf dem Land. Dort, wo alte Menschen allein vor ihrem Haus stehen, als würden sie auf etwas warten. Dort ist nicht viel vom polnischen Wirtschaftsboom zu spüren. Die PiS schenkt diesen Menschen viel Geld – höhere Löhne, Kindergeld, höhere Renten. Damit schenkt sie ihnen auch Stolz.
Fehler der «Bürgerplattform» rächen sich
Jacek Jaśkowiak war Geschäftsmann, hatte eine eigene Firma, bis er 2014 zum Bürgermeister von Posen gewählt wurde. Damals war in Polen noch die liberale «Bürgerplattform» an der Macht, die Partei, der er sich angeschlossen hat. Fehler gemacht habe seine Partei, sagt der Bürgermeister heute. Sie habe die abgehängten Menschen vergessen. «Gewisse Leute in Kleinstädten und Dörfern waren nicht zufrieden. Das hat PiS ausgenützt. Die Frustration dieser Leute kann ich aber verstehen.»
Wir müssen retten, was zu retten ist.
Er versucht, es besser zu machen. Wenn er zum Beispiel neue Tram- und Buslinien bauen lässt, denkt er nicht nur an seine Stadt, sondern auch an die Region darum herum. Für den Posener Bürgermeister ist klar, dass seine Partei noch einmal eine Chance bekommen und die Wahlen im Oktober gewinnen muss. Damit Polen ein demokratisches Land bleibt: «Wir müssen retten, was zu retten ist.»
Im Ring der Politik ist es im Moment brutal für Liberale wie Jacek Jaśkowiak. Er hat Morddrohungen bekommen. Vor seinem Büro steht neu ein Sicherheitsmann. «Eigentlich bin ich immer mit dem Velo ins Büro gefahren, aber seit drei Monaten verbietet mir das die Polizei, aus Sicherheitsgründen», sagt er.
Die Zukunft ist in Posen angekommen
In Posens Fussgängerzone rettet sich Marcin Popiak vor den vielen Flanierern und Touristen in seinen Laden. Die Tür öffnet er mit dem Handy. Den «Zukunftsladen» gibt es erst seit einer Woche. Kein Personal, keine Kasse. Dafür Essen rund um die Uhr. Anwendung herunterladen aufs Handy, Kreditkarte speichern und schon begrüssen einen die Bildschirme im kleinen Geschäft mit Namen. Bezahlen dauert Sekunden, an jedem Produkt klebt ein Code, man legt alles auf eine Ablage, es wird gescannt, fertig.
Marcin Popiak platzt fast vor Stolz. «Bis Ende 2020 eröffnen wir in Posen und Warschau 20 Läden. Wir sind die einzigen in Europa, die das können – sonst können es nur die Chinesen.» Wir, das sind 40 Leute, eine junge Firma – typisch Posen.
Wir dachten lange, Westeuropa sei besser als Polen. Das ist vorbei.
Hier sind Geldgeber aus dem In- und Ausland spendabel, hier gibt es kaum Arbeitslose, dafür immer mehr Flugverbindungen. Einige Restaurants in polnischen Städten akzeptieren kein Bargeld mehr, nur noch Kreditkarten. Viele Leute bezahlen überall mit dem Handy. «Die jungen Leute hier sind hungrig», sagt Marcin Popiak. «Wir dachten lange, Westeuropa sei besser als Polen. Das ist vorbei»
Politik soll Unternehmer in Ruhe lassen
Wen er wählt, sagt er nicht. Aber was er will von der Politik: in Ruhe gelassen werden, selber machen. Junge Stadtmenschen wie Marcin Popiak mögen nicht mehr kämpfen. An der Politik interessiert sie vor allem eins: «Das Wichtigste an einer Regierung ist, dass sie den Unternehmern keine Probleme macht.» Und im Moment mache die polnische PiS-Regierung nicht mehr Probleme als ihre Vorgänger. Und dass sie hetzt gegen Homosexuelle? Richter und Medien kontrollieren will? Das ist Marcin Popiak nicht so wichtig.
«Bleib bei mir», singt ein Strassenmusiker zwischen Posens verschnörkelten Barockhäusern. In Polen bleibe jeder im eigenen Gärtlein, man rede nicht mehr miteinander, sagt eine Passantin zwischen zwei Zügen an einer Zigarette. Die einen sind überzeugt vom einen Weg, die anderen vom Gegenteil. Die Dritten haben genug von der Politik. Dabei seien die Spannungen, die Gräben zwischen Stadt und Land doch für alle schlecht.