Kazim Kizils Protokoll: «Schlimm war, dass ich lange gar nicht wusste, was mir vorgeworfen wird. Niemand auf dem Polizeiposten und auch der Haftrichter sagte es mir, wie man das eigentlich erwarten könnte, nicht? Erst nach 65 Tagen in Haft fand ich es heraus. Ich las die Zeitung und da stand: Ich hätte den Präsidenten beleidigt mit meinen Tweets. Befragt worden bin ich aber nie dazu, weder vom Staatsanwalt noch von der Polizei. Ich wurde also für etwas verhaftet, worüber ich nie befragt worden bin.
Ich wurde zuerst in Isolationshaft gehalten. In dieser Zelle gibt es nur, was man anhat. Dazu ein Metallbett, eine dreckige Matratze, keine Seife, kein WC-Papier, keine Extrakleider. Nicht einmal Trinkwasser hatte ich. Von Zahnbürsten oder so gar nicht zu sprechen. Ich wurde dort für drei Nächte und zwei Tage eingesperrt.
Die Wärter treiben ihre Machtspiele mit dir und die geniessen das – wirklich.
Das war eine traumatische Zeit, denn ich war noch nie zuvor in einer solchen Situation. Plötzlich bist du völlig isoliert, weisst nicht, was dir vorgeworfen wird – und dann unter solchen Bedingungen...
Ich rede hier nur von den physischen Konditionen, aber noch schlimmer ist der psychologische Druck: Du weisst nicht, was passiert, es gibt zahlreiche Leibesvisitationen. Die Wärter treiben ihre Machtspiele mit dir und die geniessen das – wirklich. Ich glaube, ich übertreibe nicht, wenn ich diese Tage in Isolationshaft als die schlimmsten meines ganzen Lebens bezeichne. Ich dachte, ich drehe durch.
Eine Zelle, 20 Menschen und 10 Betten
Danach kam ich in eine Zelle, die eigentlich für 8-10 Personen angelegt war. Wir waren aber 20. Zuerst musste ich auf dem Fussboden schlafen, da es keinen Platz gab in einem der Kajüten-Betten.
Erst als einer entlassen wurde, rückte ich nach. Ich bin jemand, der spät ins Bett geht. Darum musste ich jeweils über zahlreiche Arme und Beine steigen, um überhaupt zu meiner Matratze zu kommen. Stellen Sie sich vor – ein Raum, fünf auf drei Meter, und darin sind 20 Menschen und 10 Kajüten-Betten. Zuerst wollte mir einer der Mitgefangenen meine Locken abschneiden. Doch irgendwie hat er dann diesen Plan aufgegeben.
Wir hatten eine Toilette für alle und eine Dusche. Das WC hatte keine abschliessbare Türe – nicht einmal auf dem Klo hatte ich Privatsphäre. Diese fehlende Privatsphäre war sehr schlimm für mich. Auch in der Zelle konnte ich nirgends für mich alleine sein.
Schlafen in Schichten
Wir hatten einen kleinen Aussenbereich zum Rauchen. Wenn sie den aber um 7 Uhr abends abschlossen, war es wie wenn man Hühner in den engen Stall treibt und die Metalltüre hinter dir zugeschlossen wird.
Noch viel schlimmer hatten es die Männer, die als Fetöisten (Anmerkung der Autorin: Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, der als Drahtzieher des gescheiterten Putsches beschuldigt wird) gelten. Die waren in einer Nebenzelle. Dort hatte es nicht einmal Platz für Betten, so viele Menschen waren drin. Offenbar mussten die auch in Schichten schlafen und über ihren Aussenbereich hatten die Wärter ein Gitter gezogen. Die sollen nicht einmal den Himmel frei sehen können.
Ich habe die Natur so vermisst. Überall nur Beton und Eisen. Ich übertreibe nicht, wirklich. Wir durften keinen Pflanzenkübel haben oder so. Als einmal eine Vogelfeder in unseren Aussenbereich fiel, war das schönste Geschenk für mich. Ich habe sie noch immer.»
Sibel Capraz's Protokoll: «Ich wurde direkt aus dem Spitalbett heraus verhaftet. Ich konnte kaum gehen, derart Schmerzen hatte ich. Als mich die Polizisten auf die lokale Wache brachten, liessen sie mich stehen. Plötzlich wurde alles schwarz um mich herum und ich brach zusammen.
Ich hatte noch offene Wunden. Wegen des Bauchschusses hatte ich zudem einen Beutel für meinen Stuhlgang. Den konnte ich aber nicht selber leeren mit einem Arm. Am rechten Arm, der durchschossen worden war, hatte ich ebenfalls noch offene Wunden.
Familie am Limit
Aus dem Südosten der Türkei wurde ich ins Frauengefängnis Bakirköy in Istanbul überführt. Das war ein grosses Problem für meine Familie. Familienangehörige sind die einzigen, ausser den Anwälten, die mich besuchen dürfen. Für sie war es aber finanziell kaum zu machen, mich in Istanbul zu besuchen. Das sind über 1000 Kilometer Weg. Zudem war ich so krank. Meine Familie war sowohl psychisch wie finanziell total am Limit.
Ich hatte so starke Schmerzen, dass ich wieder ohnmächtig wurde.
Zuerst war ich im Frauengefängnis in einer Einzelzelle. Ich hatte derart Schmerzen und ich sollte dringend auf die Toilette, die auf dem Gang war. Doch ich konnte nicht gehen. Ich fragte die Wärterin um Hilfe. Nach langem Warten brachte sie mir einen alten Farbkübel. «So – da hast du deine Toilette», spottete sie. Ich hatte so starke Schmerzen, dass ich wieder ohnmächtig wurde. Später robbte ich auf dem Boden zur Toilette.
Von Mitgefangenen gepflegt
Nach ein paar Tagen wurde ich in eine Massenzelle gebracht. Zusammen mit 17 anderen Frauen. Das war meine Rettung. Die Frauen haben mich gepflegt, wie ein Baby. In den ersten dreieinhalb Monaten lag ich immer im Bett. Ich war zu schwach, um aufzustehen. Die Mitgefangenen haben mir den Stuhl aus meinem Kolostomiebeutel geleert, meine Wunden neu verbunden und mit primitivsten Mitteln versucht, meinen durchschossenen Arm wieder mobil zu machen.
Da sich mein Gesundheitszustand verschlechterte, wurde ich ins Menemen-Gefängnis bei Izmir verlegt. Dort haben sie eine sogenannte Rehabilitationsabteilung. Alles wird mit Videokameras überwacht, sogar die Toilette. Nirgendwo hat man Privatsphäre. Das hat mich fast wahnsinnig gemacht. Nicht einmal auf der Toilette war man unbeobachtet. Zudem war ich die einzige Frau dort auf dieser Abteilung und es hatte nicht genug weibliche Wärter.
In der Notaufnahme
Zur Behandlung im Spital in Izmir musste ich eine Stunde mit dem Gefängnisbus fahren. Dabei haben sich die Soldaten über mich lustig gemacht. Sie haben mir als Kurdin ohrenbetäubende Nationalistensongs abgespielt – immer wieder dieselben. Einmal explodierte mein Kolostomiebeutel während der Fahrt, weil sie mir nicht erlaubten, ihn zu leeren. Das ist lebensbedrohlich. Sie mussten mich in die Notaufnahme des nächsten Spitals bringen.
Nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli 2016 wurde es noch dramatischer. Es war praktisch nicht mehr möglich, einen Spezialisten zu sehen. Nur den Allgemeinpraktiker des Gefängnisses, aber der war auch völlig überlastet. Manchmal musste man drei oder mehr Tage warten, bis man Schmerztabletten verschrieben bekam.
«Ein Baby in Gefängniskluft ist nur absurd»
In unserer Zelle war auch ein Baby mit seiner Mutter. Sie ist auch eine politische Gefangene. Der Junge war sieben Monate alt. Ein solch kleines Kind sollte doch Babynahrung bekommen. Aber im Gefängnis gibt es keine spezielle Kost für Kinder. Wir versuchten unser Bestes, ihm einen Teil von unserem Essen zu geben und es so herzurichten, dass Miraz das verdauen konnte.
Miraz hatte keine Spielsachen und wir durften ihn nicht einmal farbig anziehen. Er musste auch in die grauen Gefängnisfarben gekleidet werden. Ein Baby in Gefängniskluft: Das ist eigentlich nur absurd, finden Sie nicht auch?
Dieses Jahr im Gefängnis ohne richtige medizinische Betreuung hat grossen Schaden an meiner Gesundheit angerichtet. Heute weiss ich, wenn ich nicht eingesperrt gewesen wäre und eine gute Behandlung bekommen hätte, wäre meine Hand heute wieder brauchbar.»