Der Schweizer Nils Melzer ist UNO-Sonderberichterstatter für Folter und setzt sich vehement für Julian Assange ein. Der britischen Justiz unterstellte er einen «politischen Verfolgungsprozess». Doch nun wird Assange vorerst nicht ausgeliefert. An seiner Kritik hält Melzer trotzdem fest.
SRF News: Wie passt dieses Urteil in Ihre Beschreibung einer unfairen britischen Justiz?
Nils Melzer: Das Verfahren war unfair und ist es geblieben. Ich freue mich sehr für Assange, dass er nun aus medizinischen Gründen nicht an die USA ausgeliefert werden soll. Das ist im Grundsatz richtig. Gleichzeitig lässt das Urteil die grundsätzliche Logik der Strafverfolgung von Assange durch die USA unangetastet. Es bestätigt diese sogar.
Der Grund, warum Assange in diesem Gesundheitszustand ist, ist eine zehnjährige gezielte, systematische Misshandlung.
Der einzige Grund, warum Assange nicht ausgeliefert werden kann, ist sein Gesundheitszustand. Dieser kann sich verbessern und damit fällt das Argument weg. Das Bedrohungsszenario wird aufrechterhalten. Im Urteil werden die ganzen Argumente der Strafverfolgung durch die USA bestätigt. Grossbritannien bestätigt, dass Assanges Investigativjournalismus auch dort strafbar wäre und die Grundlagen für eine Auslieferung gegeben wären. Diese scheitert einzig am sehr hohen Selbstmordrisiko von Assange unter amerikanischen Haftbedingungen.
Dass die Argumente der Anklage in gewissen Teilen gestützt werden, heisst noch nicht, dass das Verfahren unfair war.
Über die ganzen zehn Jahre war das Verfahren unfair – egal, ob es in Schweden, den USA, Grossbritannien oder in Ecuador war. Nach menschenrechtlichen Standards hat Assange nie ein faires Verfahren bekommen. Er hatte keinen Zugang zu seinen Anwälten, keinen Zugang zu Gerichtsdokumenten, er wurde in Isolationshaft gehalten, wofür die Rechtsgrundlage ganz klar nicht gegeben war und wofür auch keine Notwendigkeit bestand.
Solche Prozesse werden selten nach rechtsstaatlichen Kritieren durchgeführt.
Assange wurde systematisch in seiner Gesundheit erodiert. Bis zum Punkt, wo man ihn nicht mehr ausliefern kann. Er hat nun keine Gerechtigkeit erfahren. Der Grund, warum er in diesem Gesundheitszustand ist, ist eine zehnjährige gezielte, systematische Misshandlung. Wir sehen jetzt einen politischen Entscheid. Der neue US-Präsident wünscht mit seiner Administration diese Auslieferung wahrscheinlich nicht.
Joe Biden war Teil der Obama-Administration, die diesen Prozess gegen Assange nicht führen wollte. Sie wollte ihn in der ecuadorianischen Botschaft in London stilllegen. Nun kehrt die gleiche Logik in Washington zurück.
Sie gehen von einer durch und durch politisierten britischen Justiz, einem erodierten Rechtsstaat aus?
Eindeutig. Aber natürlich nicht in alltäglichen Standardfällen, sondern bei politischen Fällen, in denen es um die nationale Sicherheit geht. Hier funktioniert der Rechtsstaat nicht – nicht nur in Grossbritannien, sondern auch in den USA und anderen Ländern. Solche Prozesse werden selten nach rechtsstaatlichen Kriterien durchgeführt.
Worauf stützen Sie sich, wenn Sie sagen, dass Biden keine Auslieferung von Assange wollte?
Das ist meine Vermutung, dass sich die Logik so geändert hat. Beweise habe ich keine. Assange wurde seit 2010 verfolgt. Die USA haben aber keine Anklage gegen ihn erhoben. Bis zum Punkt, als US-Präsident Donald Trump Assange ein Angebot machte, ihn zu begnadigen – im Gegenzug für die Preisgabe der Quellen der damaligen DNC-Leaks von 2016.
Assange schlug Trumps Angebot aus. Kurz danach haben die USA Strafanklage erhoben und seine Auslieferung verlangt – und damit Assanges Verhaftung erzwungen.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.