Ion Iliescu war Ceaucescu einmal sehr nah. Anfang der siebziger Jahre war er Sekretär des Zentralkommittees der Kommunistischen Partei. Doch der Diktator begann, ihn zu fürchten und versetzte ihn auf immer unbedeutendere Posten. Vor der Wende leitete er schliesslich einen Verlag für technische Bücher.
Iliescu erinnert sich genau, wie er vom Umsturz erfuhr. «Ich wurde vom Geheimdienst Securitate streng kontrolliert. Sie folgten mir auf Schritt und Tritt», erzählt er. «Jeden Morgen warteten sie vor meinem Haus – immer dieselben zwei Autos. Tagsüber warteten sie vor meinem Arbeitsort, abends folgten sie mir nach Hause. Ich hatte meine persönlichen Wächter. Am 22. Dezember um elf Uhr verschwanden die beiden Autos.»
Er wusste, was das bedeutete. Das Ende des Regimes lag in der Luft, spätestens seit den Unruhen in Temeswar fünf Tage früher und den Protesten am Tag davor in Bukarest selber.
Iliescu ist heute 84 Jahre alt. Im Vorzimmer seines Büros hängen Bilder von ihm mit Bill Clinton, François Mitterrand, dem Papst. Doch der spätere langjährige Präsident Rumäniens tritt freundlich und bescheiden auf. Er wusste sofort, was tun, als die Securitatewächter weg waren.
«Ich verabschiedete mich von meinen Kollegen und ging ins Fernsehstudio. Alle zog es dorthin. Es war die erste Revolution, die live vom nationalen Fernsehen präsentiert wurde.»
Die persönlichen Securitatewächter
Auch Radu Filipescu hatte seine persönlichen Securitatewächter. Auch ihm folgten, als er am Tag des Sturzes zur Arbeit ging, wie gewohnt zwei Wagen. «Aber an der nächsten Ecke holten sie mich ein und sagten: ‹Okay, komm mit uns.›»
Filipescu blieb ruhig. Er kannte das. Es war schon seine dritte Verhaftung. Beim ersten Mal, 1983, war er 27 Jahre alt. Er hatte heimlich 10'000 Flugblätter gedruckt. Wer den Sturz Ceaucescus wolle, stand darauf, der solle jeden zweiten Sonntag zwischen 17 und 18 Uhr spazieren gehen.
Das Flugblatt war kein Erfolg. Aber die Securitate fahndete mit über 100 Mann nach ihm und erwischte ihn beim Verteilen. Er wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, kam aber nach drei Jahren auf internationalen Druck wieder frei. Verurteilt wurde er wegen Propaganda gegen die sozialistische Gesellschaft. Das wollte er drei Jahre später vermeiden. «Ich sagte mir: Wie wäre es, wenn ich eine Abstimmung organisiere? Mal schauen, was sie dann mit mir machen. Immerhin war ich damals als Dissident schon einigermassen berühmt.»
Filipescu druckte wieder Flugblätter. Wer für Ceaucescu sei, solle auf der Strasse des sozialistischen Sieges spazieren gehen, hiess es dieses Mal. Wer gegen ihn sei, auf dem Palastplatz.
Er wurde wieder verhaftet und verhört, aber nicht mehr nur mit Worten, wie beim ersten Mal. Sie schlugen ihm mit einem Stock mit aller Kraft auf die Hände, den Rücken, den Hintern, die Füsse. «Sie waren so brutal. Ich denke, das war Folter. Es war so schlimm, dass ich zurück in der Zelle nach einem Haken suchte.»
Der Mechanismus des Terrors
Wenn er sich heute fragt, was schlimmer war: die drei Jahre oder die zehn Tage Gefängnis, dann sind es die zehn Tage. «Denn da war kein Gesetz. Und das ist der Mechanismus des Terrors. Du hast keine Ahnung was sie mit dir tun. Sie können dich schlagen, sie können dich töten.»
Am 22. Dezember 1989 aber liessen sie ihn und zwei Mitgefangene schon um die Mittagszeit wieder frei. «Wir fragten nicht, warum. Wir gingen einfach. Auf der Strasse sagte uns jemand, dass Ceaucescu geflohen sei.»
Auch Filipescu ging ins Fernsehstudio. Da traf der berühmte Dissident auf den von Ceaucescu marginalisierten Funktionär Iliescu. Dieser wurde zum starken Mann der Revolution. Warum eigentlich? «Alle wussten von meinen Auseinandersetzungen mit Ceaucescu», sagt Iliescu. «Darum schauten alle auf mich als mögliche Führungsfigur der Revolution.»
Man kann nur staunen, wie schnell Iliescu im Dezember 1989 die Front zur Nationalen Rettung aufbaute und mit ihr an die Macht kam. Manche Leute vermuten, dass er auf den Umsturz vorbereitet war. Er bestätigt das nicht.
Sicher ist, er scheute sich nicht vor schwierigen Entscheidungen. So brach er zum Beispiel das Versprechen, dass die Front zur Nationalen Rettung die ersten Wahlen nur vorbereiten, aber nicht daran teilnehmen würde. «Das war unvermeidlich», sagt er heute. Über dreissig Parteien formierten sich. Also hatte auch seine Front das Recht, anzutreten.
Der Neuanfang mit alten Gesichtern
Doch es gab auch Proteste. Demonstranten auf den Strassen forderten, dass hohe ehemalige Parteifunktionäre und Securitatemitglieder sich nicht zur Wahl stellen dürfen. «Das war unmöglich. In allen Parteien gab es alte Kommunisten», erinnert sich Iliescu. «Sie auszuschliessen, war keine beliebte Idee. Nur eine kleine Minderheit wollte das.»
Die Proteste gegen die Art und Weise, wie die Ex-Kommunisten rund um Iliescu sich an die Macht brachten, lösten sich nicht auf. Die Demonstranten wurden mehrmals brutal zusammengeschlagen von Bergarbeitern, die dafür nach Bukarest kamen.
Iliescu rief die Bergarbeiter, behaupten manche Leute. Er bestreitet das. Sicher ist: Er schaute zu. «Was hätten wir tun sollen?», fragt er heute. «Es gab keine Streitkräfte, um Leute wie diese Bergarbeiter zu kontrollieren.»
Iliescu gewann die ersten Wahlen mit 85 Prozent der Stimmen. Er dominierte die rumänische Politik über ein Jahrzehnt und schaute zu, wie die politische Elite und insbesondere seine Partei sofort in schwerste Korruption abglitt. Wie hielt er, der als bescheidener Mann gilt, das aus? Man müsse das realistisch sehen, sagt er. «Alle ehemaligen Ostblockländer hatten Mühe mit dem Übergang in den Kapitalismus. Ich hätte gern eine Partei der anständigen Leute gegründet. Aber die Wirklichkeit hat gezeigt, dass das nicht möglich ist.»
«Ich bin immer noch voller Hoffnung»
Iliescu, der Revolutionär, wurde zum Realisten. Der Dissident Radu Filipescu wandte sich nach der Revolution von der Politik ab. «Wir haben nicht gemerkt, wie sehr Iliescu die Macht kontrollierte. Und wir hatten nur sehr wenig Zeit, um zu lernen, wie Politik funktioniert.»
Es habe Enttäuschungen gegeben, sagt Filipescu. «Aber das Leben ist so viel mehr als Politik und die persönliche Freiheit so viel grösser seit der Wende. Ich bin immer noch voller Hoffnung.»