«Den Tank zu füllen, ist zum Abenteuer geworden. Ich stand heute zwei Stunden vor der Tankstelle Schlange». Die Politikerin Nirvana Shawky hat dies befürchtet und ist deshalb früher zur Arbeit gefahren als gewohnt, sagt sie zu SRF News Online.
«Der sonst schon unerträgliche Stau auf Kairos Strassen hat sich unvorstellbar verschlechtert», bemerkt auch Sarah*. «Alle brauchen ihre Apps, um herauszufinden, wo es in der Stadt Benzin gibt», fügt sie an. Die in der Schweiz wohnhafte Ägypterin besucht ihre Familie in Kairo. Sie bleibt nicht so lange, wie sie ursprünglich geplant hatte.
«Ins eigene Fleisch geschnitten»
Nicht nur die Mega-Stadt ächzt unter dem Benzinmangel. Im ganzen Land gibt es laut den beiden Frauen kein Benzin mehr. Die Schuld dafür schieben sich die verschiedenen Parteien gegenseitig in die Schuhe.
Die Regierung Mursi beschuldigt das alte Regime, es heure Taxifahrer an, um die Tankstellen zu verstopfen. Als Sündenböcke gelten aber auch die Einwohner. Der Vorwurf: Sie horten Benzin. Und dafür verantwortlich sei die Protestbewegung. Wegen der angekündigten Massendemonstration vom 30. Juni – dem ersten Jahrestag von Mohammed Mursis Vereidigung als Präsident. Dies hätte Panik in der Bevölkerung ausgelöst.
Nirvana Shawky kontert. Sie ist ein fester Teil in der Protestbewegung und ein hohes Mitglied einer liberalen Partei: «Die Regierung hat sich ins eigene Fleisch geschnitten: Sie selbst hat in der Bevölkerung Angst geschürt und vor einem Gewaltausbruch am nächsten Sonntag gewarnt.»
Shawky macht Wirtschaft und Politik für den Spritmangel verantwortlich: Wichtige Raffinerien seien kaputt. Und das Land habe kein Geld, um sie in Schwung zu bringen. Tatsächlich ist es ein länger schwelendes Problem. Um die Wirtschaft Ägyptens steht es schlecht. Im vergangenen halben Jahr hat es schon mehrmals ähnliche Benzinknappheiten gegeben. Doch mit der Angst vor dem Ungewissen nach nächstem Sonntag hat sich die Situation zugespitzt.
Panik vor dem Stillstand
«Alle Firmen, Banken und sogar Behörden schliessen ihre Büros am Samstag», weiss die Politikerin. Leute horten nicht nur Benzin. Sie stehen laut der Politikerin Schlange vor den Geldautomaten. Sie hamstern Essen. Wie Shawkys Eltern: «Sie haben Angst, dass es zu einem Stillstand kommt und sie ab nächstem Sonntag nichts mehr kaufen können.»
Doppelbürgerin Sarahs Verwandte haben sich eingedeckt mit Medikamenten. «Sie wollen bei einem möglichen Chaos abgesichert sein. Sie befürchten, tage- wenn nicht wochenlang nichts mehr kriegen zu können», erklärt sie.
Der blutige Showdown
Was ist eigentlich zu erwarten an diesem ominösen Sonntag? Möglich sind 15 Millionen protestierende Menschen. Sie alle haben laut Regierungsgegnern eine Petition unterschrieben. Darin fordern sie den Rücktritt der Moslembrüder. Es wird eine zweite Revolution erwartet.
Die Protestbewegung hat wiederholt versichert, sie werde friedlich demonstrieren. Aber: «Einzelne Gruppen können Gewalt provozieren. Demonstranten, Mursi-Anhängern oder die Polizei», diese Möglichkeit sehen beide Frauen. Es geistern beängstigende Szenarien durch die Gesellschaft. Von einem blutigen Showdown ist die Rede.
Die Armee hat offiziell mehr Truppen angefordert. Sie werden sich um die strategisch wichtigen Lokalitäten stationieren. Das Militär hat gewarnt, bei einer Gewalteskalation einzuschreiten. Es kursieren Gerüchte, wonach die Armee einen Coup plane. Und Islamisten beschuldigen die Aktivisten, mit ihrem Protest einen Militärputsch zu provozieren.
Politikerin Shawky bezweifelt die Absicht eines Putsches: «Das Militär geniesst mit den Moslembrüdern an der Macht eine exzellente Position – unabhängig und mächtig.» Nach dem Sturz von Mubarak hätten sie bewiesen, dass sie das Land nicht führen könnten. Zurück zu dem wolle die Armee nicht, vermutet sie.
Abreisen, bevor Chaos ausbricht
Träte Mursi auf Druck der Strasse dennoch zurück, würde ein langer Prozess bevorstehen. Für Neuwahlen müsste ein neuer Kopf auf die Bühne treten. Einer, der dem Militär genehm ist und einer, der die heterogene Anti-Mursi-Bewegung vertritt. Bisher gibt es laut Shawky nicht einmal jemanden, der die Revolution vereint.
Seit dem Sturz Mubaraks im Februar 2011 nahm die Revolution zahlreiche unabsehbare Wendungen. Deshalb gilt es zunächst, den Sonntag abzuwarten. Sarah ist bis dann wieder zurück in der Schweiz. Sie will ein mögliches Chaos umgehen, um rechtzeitig zurück bei ihrer Familie zu sein.
Nirvana Shawkry stellt sich auf einen langen Kampf ein. Sie deckt sich – im Gegensatz zu den meisten – nicht mit Esswaren ein. «Ich werde nicht zuhause sein, sondern auf den Plätzen ausharren – so lange es nötig sein wird.»
*Sarah will nicht ihren ganzen Namen bekanntgeben.