Das Gericht ist eine familiäre Angelegenheit: Zwei afghanische Richter, ein Strafverteidiger, ein Staatsanwalt, der Angeklagte und zwei Mitarbeiter des amerikanischen Aussenministeriums. Sie seien blosse Beobachter, sagen sie. Mehr dürfen sie nicht sagen.
Der Angeklagte, ein bärtiger, ungefähr 30jähriger Afghane, sitzt mit Ketten an Händen und Füssen, an einem Tisch und hört sich die Anklage des Staatsanwalts an.
Amerikanische Soldaten haben den Angeklagten im Juni 2011 in der Provinz Khost verhaftet, weil sie in seinem Haus ein Jagdgewehr und einen Feldstecher der internationalen Schutztruppen gefunden haben. Zudem beschuldigte ein Mitgefangener den Angeklagten, Mitglied des Haqqani-Terror-Netzwerks zu sein.
Sein Anwalt verteidigt ihn: «Wir leben seit dreissig Jahren im Krieg, wer hat da kein Gewehr zu Hause?» Der Angeklagte selbst sagt, er sei ein armer Bauer. Das Haqqani-Netzwerk kenne er nicht. Mehr wolle er nicht sagen.
Ohne Prozess im Gefängnis
Seit beinahe zwei Jahren sitzt er ohne Gerichtsprozess im Gefängnis in Bagram. Heute ist sein erster Prozesstag. Mehr als 3000 Gefangenen sitzen heute noch in Bagram ein. Die meisten von ihnen sind Terror-Verdächtige und angeklagt Teil der Taliban, al-Kaida oder des Haqqani-Netzwerks zu sein.
Während die afghanischen Gefangenen vor mehr als einem Monat an die Afghanen übergeben wurden, behalten die Amerikaner die ausländischen Gefangenen – darunter viele Pakistaner – unter ihrer Kontrolle.
Das Gericht existiert seit drei Jahren, wird jedoch jetzt vollständig von den Afghanen geleitet. Zumindest werden sowohl die Amerikaner als auch die Afghanen nicht müde, das zu betonen. «Die Justiz ist komplett unabhängig von den Amerikanern und seit es in unseren Händen ist, wurden die Prozesse extrem beschleunigt. Letzte Woche haben wir mehr als hundert Gefangene freigelassen», sagt Mohammed Rahim Karimi, der 75jährige Chef des Appellationsgerichts.
Nicht genügend Beweise
Tatsächlich wurden in den vergangenen Monaten Hunderte von Gefangenen entlassen – viel mehr als zuvor. Das habe verschiedene Gründe, sagt Martine van Bijlert vom «Afghan Analyst Network» in Kabul: «Gefangene werden entlassen, weil es zum Beispiel nicht genügend Beweise gab, sie festzuhalten. Andere haben ihre Zeit abgesessen, oder sie werden aus politischen Gründen entlassen.»
Politische Gründe. Das heisst im Klartext: «Wir lassen Taliban frei, um so mit ihnen ins Gespräch zu kommen.» Ein Jahr vor den Wahlen und ein Jahr vor dem Abzug der Nato-Truppen will Präsident Karsai genau das. Die Angst vor den Taliban, das spiele eine wichtige Rolle bei den Freilassungen. Das sagt ein Mitarbeiter des Gerichts, der aus Angst um sein Leben und seinen Job, nicht mit Namen genannt werden will.
Richter fürchten um ihr Leben
Die Richter müssen jeden Tag um ihr Leben fürchten und erhalten regelmässig Drohanrufe. Ein Richter hat bereits gekündigt. «Die Taliban haben auch mich angerufen und gesagt: Wir hacken deinen Kopf ab und töten deine Familie, weil du ein Ungläubiger bist und für die Amerikaner arbeitest. Sie wussten sogar welches Auto ich fahre.»
Solche Drohungen beeinflussen die Urteilssprüche. Es sei völlig undurchsichtig, wieso manche Gefangene verurteilt und andere entlassen würden, sagt auch Martine van Bijlert vom «Afghan Analyst Network». Eines sei jedoch klar: «Unter amerikanischer Kontrolle gab es einen grossen Rückstau bei der Aufarbeitung der Fälle. Die Afghanen waren nicht glücklich darüber, dass ihre Landsleute in ihrem Land von Amerikanern festgehalten werden. Jetzt versuchen sie das zu korrigieren.»
Für Präsident Karsai war die Übernahme der Gefangenen denn auch eine Prestigefrage und – wie er immer wieder betonte – eine Frage der Souveränität über sein Land. Man brauche die Amerikaner nicht mehr, sagt auch General Gholam Faroq, der afghanische Militärkommandant von Bagram: «Ab sofort könnten wir das Gefängnis und das Gericht komplett alleine führen. Die Amerikaner sind nur noch Beobachter hier.»
Die Realität sieht anders aus. Das wird uns klar, bevor wir überhaupt zum Gericht kommen. Trotz Besuchserlaubnis des afghanischen Verteidigungsministeriums und des höchsten Afghanischen Gerichts, halten uns amerikanische Soldaten zwei Stunden lang am Eingang der Militärbasis fest. Sie verlangen eine Bewilligung der internationalen Schutztruppen – obwohl uns gesagt worden war, dass wir genau die nicht mehr brauche.
Ohne Amerikaner – kein Gericht
Danach begleitet uns eine amerikanische Offizierin auf Schritt und Tritt. Das Gericht würde sofort kollabieren, falls die Amerikaner jetzt abziehen würden, glaubt der afghanische Gerichtsmitarbeiter, der namenlos bleiben will: «Wir sind bis zum letzten Bleistift auf die Amerikaner angewiesen. Die Afghanen können sich das Gericht gar nicht leisten. Die Amerikaner aber haben das grosse Geld, sie bezahlen alles und versorgen uns mit allem: Strom, Essen, Löhne.»
Und – wie im Gespräch mit den Staatsanwälten und Richtern klar wird: Die Amerikaner liefern auch das gesamte Beweismaterial. Sprengsätze werden jedoch oft bereits am Ort der Verhaftung zerstört, das Beweismaterial besteht lediglich aus Fotos.
Zum Beispiel im Falle des Angeklagten von Khost. Seine Verhandlung ist zu Ende. Sie hat zehn Minuten gedauert. Wenige Minuten später verkünden die zwei Richter das Urteil: schuldig wegen Mitgliedschaft in einer Anti-Regierungsgruppe. Verurteilt zu einem Jahr und neun Monaten. Der Angeklagte kann gehen. Er hat seine Strafe bereits abgesessen.
Das Gefängnis in Bagram wird sich trotz den massenhaften Freisprüchen in den kommenden Monaten nicht leeren. Denn jede Nacht bringen die Nato-Soldaten neue Gefangene, die sogenannt unabhängigen afghanischen Richter können sie später wieder freisprechen.
(basn;fref)