Als selbst der Papst die Massaker an den Armeniern jüngst als Genozid bezeichnete, reagierte die Türkei empört. «Weit entfernt von der Realität», «inakzeptabel», «unsinnig.» Regierungsnahe Medien warfen Rom vor, die «Lügen der armenischen Lobby» wiederholt zu haben und Präsident Erdogan forderte, der Papst möge bitteschön nicht die Arbeit von Historikern übernehmen.
War es nun ein Genozid oder war es keiner? Und: Waren es wirklich 1,5 Millionen Christen, die vor 100 Jahren im Osmanischen Reich umkamen? Oder doch «nur» einige Hunderttausend, wie die türkische Regierung behauptet?
Armenier empfinden Genozid-Diskussion als Belastung
«Für mich ist das zweitrangig», sagt ausgerechnet eine türkische Armenierin, die in ihrer Istanbuler Wohnung die Nachrichten verfolgt. «Wir türkischen Armenier möchten einfach nur, dass die Regierung uns nicht mehr als Bürger zweiter Klasse behandelt. Das ist es, was sich die Mehrheit von uns wünscht – nichts anderes.»
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Tatsächlich: Im Gegensatz zu den Armeniern in Europa und Amerika empfinden viele türkische Armenier die aktuellen Genozid-Diskussionen sogar als Belastung. Sie haben oft drängendere Probleme – wie die alltägliche Diskriminierung in einem zu 99 Prozent muslimischen Land.
Diskussion dreht sich um Begriffe, nicht um Menschen
Gerade dabei sei Fingerspitzengefühl gefragt, meint die armenische Anwältin Fethiye Cetin. Die Diskussion drehe sich seit Jahren um Zahlen und Begriffe und nicht um Menschen. «Aber das Leid von damals war das Leid von Menschen.» Alles andere polarisiere nur und sorge dafür, dass sich das türkische und das armenische Lager immer weiter voneinander entfernten. «Erst in dem Augenblick, in dem wir über persönliche Schicksale sprechen, kommen wir einander wieder näher», sagt Cetin.
Cetin selbst machte einen ersten Schritt in diesem Annäherungsprozess und schrieb ein Buch mit dem Titel «Meine Grossmutter». Das Wort Genozid kommt darin kein einziges Mal vor. Stattdessen wird die Geschichte von Heranuş erzählt, Cetins Grossmutter, die die Massaker vor hundert Jahren überlebte, weil sie von einer muslimischen Familie adoptiert und aufgezogen wurde.
Viele Türken organisieren Gedenkfeier für Armenier
Es ist dieser persönliche Ansatz, der den Umgang vieler türkischer Armenier 100 Jahre nachdem ihre Vorfahren brutal vertrieben, zwangsislamisiert oder ermordet wurden, charakterisiert. Auch in den Arbeiten von Kulturschaffenden spiegelt er sich, weiss Asena Günal, Programmkoordinatorin am unabhängigen Kulturzentrum Depo in Istanbul: «Wir glauben, dass wir die Menschen so viel besser erreichen können. Wenn wir in einer Fotoausstellung die Geschichte einer armenischen Familie erzählen, dann bewusst nicht nach dem Motto: So grausam waren die Türken, so hässliche Dinge machten die Osmanen. Ich denke, es ist bei diesem Thema sehr wichtig, wie man etwas sagt.»
Und so mag die grosse Mehrheit der Türken nach wie vor darauf beharren, dass weder der Papst noch sonst jemand das Recht hat, ihrem Land einen Völkermord vorzuwerfen. Im Kleinen aber hat der Dialog zwischen Armeniern und Türken bereits begonnen. Nicht zufällig sind diejenigen, die in diesen Tagen Veranstaltungen zum Gedenken an die Armenier organisieren, nicht selten muslimische – keine armenischen Türken.