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International «Asyl war nie Teil der EU-Aussenpolitik»

Sei es die Errichtung von Grenzzäunen oder die Ankündigung eines Asylstopps: Einseitige Massnahmen von EU-Mitgliedstaaten im Umgang mit Asylsuchenden haben zugenommen. EU-Expertin Sandra Lavenex über die Gründe, weshalb die Zusammenarbeit im Asylbereich nicht funktioniert.

SRF News: EU-Mitgliedstaaten tun sich schwer, ein gemeinsames Rezept zur Entschärfung der Flüchtlingskrise zu finden. Zugleich häufen sich individuelle Massnahmen der Staaten. Weshalb gibt es trotz der langjährigen Zusammenarbeit an Grenzen durch das Schengener und das Dubliner Übereinkommen kaum Lösungen auf europäischer Ebene?

Sandra Lavenex

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Sandra Lavenex ist Professorin für europäische und internationale Politik an der Universität Genf. EU-Migrations- und Aussenpolitik zählen zu ihren Forschungsschwerpunkten.

Sandra Lavenex: Die europäische Zusammenarbeit ist von langjährigen Verteilungskonflikten zwischen den Mitgliedsländern dominiert. Sie hat ihre Wurzeln im ersten Schengener Abkommen von 1985 zwischen Deutschland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg. Diese Staaten sind Kernländer der europäischen Integration und definierten auch die Zusammenarbeit an den Aussengrenzen von Beginn weg. Als sich Italien und Griechenland der Zusammenarbeit anschlossen, war der Konflikt vorprogrammiert. Aus Sicht eines Kernlands wie Deutschland, das traditionell viele Asylbewerber in der EU aufnimmt, musste Ziel der europäischen Zusammenarbeit sein, die Länder an den Aussengrenzen stärker in die Bekämpfung der irregulären Migration und in die Asylpolitik einzubinden. Die hierfür beanspruchte Erst-Staatenregelung im Dubliner Übereinkommen fusste also von Beginn an auf einer Distributionslogik. Diese Regelung hat in der Tat den Einwanderungsdruck in den Staaten an den EU-Aussengrenzen erhöht, der Verteilungskonflikt wirkt jedoch fort: Viele Migranten, die in Italien oder Griechenland ankommen, gelten als irreguläre Migranten und werden statistisch nicht als Asylbewerber erfasst. Italien hat schon vor der aktuellen Flüchtlingskrise wiederholt eine gerechtere «Lastenverteilung» verlangt.

Wenn nun aber Österreich de facto ein Asyl-Stopp durchzieht und versucht, Flüchtlinge in der Slowakei unterzubringen; oder Ungarn die Asylverfahren drastisch verkürzt und die Bewerber nach Serbien schickt – sind das nicht Verstösse gegen die geltenden Übereinkommen?

Personen in einen «sicheren Drittstaat» zurückzuschieben, ist vertraglich möglich. Die Dauer eines Asylverfahrens ist nicht detailliert vorgeschrieben. Der Anspruch auf ein Rekursverfahren ist jedoch durch eine EU-Richtlinie zum Asylverfahren gewährleistet. In rechtlichen Grauzonen könnte im Falle einer Klage zudem der Europäische Gerichtshof das letzte Wort haben.

Dennoch: Sind Massnahmen wie die Errichtung von Zäunen an der Grenze wie in Ungarn oder im französischen Calais nicht ein Zeichen dafür, dass die europäische Zusammenarbeit im Rahmen der Schengener und Dubliner Abkommen gescheitert ist?

Das Problem gründet darin, dass diese Zusammenarbeit ursprünglich nicht zur Bewältigung von Flüchtlingskrisen geschaffen wurde, sondern zur Errichtung eines grenzfreien innereuropäischen Raumes, namentlich des «Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts». Asylrechtliche Massnahmen waren immer nur Kompensationsmassnahmen für diesen Raum und nie Teil einer umfassenden aussenpolitischen Strategie.

Wie ist denn das Ziel der Europäischen Kommission zu verstehen, ein «Gemeinsames Europäisches Asylsystem» zu verwirklichen?

Das ist typisch Brüssel: Man fängt in einem eingeschränkten Bereich an zusammenzuarbeiten und realisiert dann, dass dies nicht ausreicht. So war es nicht geplant, im Asylrecht materielles und Verfahrensrecht zu harmonisieren. Mit der Zeit wurde aber offensichtlich, dass es bei den Asylverfahren einen gemeinsamen Minimalstandard zur Anerkennung der Flüchtlinge braucht. Die Europäische Kommission spricht oft aus, was aufgrund solcher Erkenntnisse wünschenswert wäre – die Staaten ziehen aber, wenn überhaupt, immer nur schrittweise nach.

Welche Verantwortung an der aktuellen Krise trägt die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Aussengrenzen der EU-Mitgliedstaaten (Frontex)?

Die Frontex ist ein Sicherheitsapparat zur Abwehr der irregulären Migration. Die aktuell hohe Anzahl Bootsmigranten ist zu einem grossen Teil auf eine humanitäre Krise zurückzuführen. Entsprechend viele Personen müssen deshalb aus humanitären Gründen zumindest vorläufig aufgenommen werden. Auch wenn sie zwischenzeitlich auch Leitlinien zur Wahrung der Menschenrechte entwickelt hat: die Frontex ist auf humanitäre Krisen schlecht vorbereitet. Umso wichtiger dürfte das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) werden. Dieses wurde zur Bewältigung der Asylprobleme eingerichtet und unterstützt aktuell in Griechenland und Sizilien den Registrations- und Asylverfahrensprozess.

Was muss Ihrer Meinung nach auf europäischer Ebene geschehen, damit künftig einheitlicher und in engerer Zusammenarbeit Asylanträge bewältigt werden?

Die Staaten müssten aufhören, sich gegenseitig den Schwarzen Peter zuzuschieben – sie sind in einer «negativen Redistributionslogik» gefangen: Zu rasch wird behauptet, der andere müsse mehr tun. Ohne den politischen Willen und die Solidarität, dass jeder seinen Anteil übernimmt, auch finanziell, kann man keine gemeinsame Strategie finden. Der eingangs erwähnte Verteilungskonflikt zwischen Kernländern und Ländern an den Aussengrenzen wirkt bis heute nach. Das betrifft auch die neuen Mitgliedsländer der EU, welche asylgesetzliche Regelungen als Bedingung für den EU-Beitritt eingeführt haben, und deshalb wenig Zeit hatten, sich auf die aktuellen Herausforderungen vorzubereiten. Könnte man bei der heutigen Flüchtlingskrise bei null anfangen, wären gemeinsame Lösungen möglicherweise einfacher.

Das Gespräch führte Emanuel Gyger.

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