SRF News: Handelt es sich bei den Abgeordneten des türkischen Parlaments, die ihre Immunität verlieren, vor allem um die kurdischen Vertreter?
Reinhard Baumgarten: Zahlenmässig nicht. Von der pro-kurdischen HDP sind es 50. Insgesamt betroffen sind ja 138 Parlamentarier. Aber das Ansinnen, gegen die Kurden vorzugehen, ist sicherlich das Hauptmotiv hinter der Aufhebung der Immunität gewesen.
Was sagen Sie zum Stimmenverhältnis? Immerhin waren 370 der 550 Abgeordneten dafür, dass diesen Parlamentariern die Immunität entzogen wird.
Es ist überraschend, dass die AKP mit ihren 316 Parlamentariern, über die sie verfügt, eine so breite Zustimmung für ihren Antrag bekommen hat. Es ist offensichtlich, dass die Partei der nationalistischen Bewegung MHP dafür gewesen ist. Aber dass es so viele Parlamentarier der republikanischen Volkspartei gegeben hat, die auch der Meinung sind, man müsse diesen 138 Abgeordneten die Immunität entziehen, ist überraschend.
Welche Konsequenzen wird das nun haben – vorab für die kurdischen Parlamentarier?
Ihnen drohen Strafverfahren, das ist ja der Sinn und Zweck der ganzen Übung. Man nimmt ihnen die Immunität weg, damit sie strafrechtlich belangt werden können. Diese Strafverfahren werden sicherlich zeitnah auf den Weg gebracht. Die Vorwürfe gegen Kurdenpolitiker sind zum Teil beträchtlich. Es geht nicht nur um Beleidigung, Amtsmissbrauch oder sonstige kleinere Delikte. Sondern es geht um Unterstützung von Terrorismus, Volksaufwiegelung und -verhetzung. Es muss damit gerechnet werden, dass die HDP-Politiker, wenn sie angeklagt werden, möglicherweise in Untersuchungshaft kommen, dass die Verfahren relativ zügig vorangebracht und sie verurteilt werden. Dann würden sie ihre Abgeordnetenmandate verlieren. Dies wiederum würde zu einer anderen parlamentarischen Arithmetik führen.
Den kurdischen Parlamentariern drohen Strafverfahren, das ist ja Sinn und Zweck der Übung.
Wie wird dieses relativ klare Votum des Parlaments bei der Bevölkerung ankommen?
Bei der türkischen Mehrheitsbevölkerung wird das vielleicht beim einen oder anderen Kopfschütteln auslösen. Aber es wird keine Entrüstung bewirken. Wie das Ganze in den Kurdengebieten aufgenommen wird, ist im Moment völlig unvorhersehbar, weil hier mehr oder weniger die demokratisch gewählte und legitimierte Volksvertretung der Kurden unter Anklage gestellt wird. Damit muss gerechnet werden. Jede Menge Leute sagen, damit werde ein klares Signal an die Kurden gesendet: «Ihr habt keine politische Repräsentanz in diesem Land. Und was euch letztlich bleibt, wenn ihr euer Recht haben wollt, ist militärisch gegen irgendwelche Unterdrückungsmechanismen vorzugehen.» Das sind nicht meine Worte, sondern Worte von Beobachtern der Szene hier.
Man kann es also als eine Art Kriegserklärung an die Kurden lesen?
Es gibt Leute, die lesen das so. Und es gibt Leute, die versucht haben, beschwörend auf die Abgeordneten einzuwirken. Sie sagten: «Tut es nicht, denn die Auswirkungen sind völlig unabsehbar.» Niemand weiss, wie sich eine kurdische Mehrheitsbevölkerung im Südosten des Landes fühlt, wenn ihre politische Repräsentanz pauschal und in grosser Zahl unter Anklage genommen, möglicherweise verurteilt, und dann ihrer Abgeordnetenmandate entledigt wird.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.