Am 22. Februar um die Mittagszeit erschoss Carl Anthony Cooper die 90-jährige Martha Gilliard und deren Bruder an einer Bushaltestelle in Baltimore. Danach floh er auf einem Motorrad.
Big Brother wacht über uns
Was weder Cooper noch die Öffentlichkeit damals wussten: Während der Tat kreiste eine Cessna der Firma Persistent Surveillance Systems im Auftrag der Polizei von Baltimore über der Stadt. Das Kleinflugzeug war mit zahlreichen hochauflösenden Kameras ausgerüstet, die permanent Aufnahmen machten.
Am Boden setzte ein Computer die einzelnen Fotos zu einem Panorama der Stadt zusammen und generierte daraus einen Film. So verfügte die Polizei über eine Ansicht der Stadt, in die Spezialisten hineinzoomen und sich auch noch durch die Zeit bewegen konnten – eine animierte Version von Google Earth.
Mit Hilfe dieses Systems konnte die Polizei den Fluchtweg des Mörders verfolgen. Drei Tage nach der Tat schrieb sie ihn zur Fahndung aus und verhaftete ihn später.
Vom Irak nach Baltimore
Entwickelt hatte das System Ross McNutt für die amerikanische Luftwaffe. 2008 kamen die Kameras zum ersten Mal im Irak zum Einsatz im Kampf gegen den Terror. Ein Flugzeug kreiste permanent über der Stadt Fallujah und schickte die Aufnahmen an die Bodenstation.
Ging irgendwo eine Autobombe hoch, so suchten Analysten auf den Luftaufnahmen zuerst den Ort der Explosion. Spielten sie dann den Film rückwärts ab, so führte sie das Fahrzeug zum Ursprungsort zurück. Lief der Film vorwärts, so konnten sie verfolgen, wohin sich der Fahrer in Sicherheit brachte, nachdem er das Auto mit der Bombe parkiert hatte.
Ross McNutt verliess die Armee 2007 und gründete die Firma Persistent Surveillance Systems mit dem Ziel, dieses Überwachungssystem für zivile Zwecke zu vermarkten. In den darauf folgenden Jahren führte er mit Polizeikorps in den USA und in Mexiko verschiedene Tests durch. Doch verkaufen konnte er seine Erfindung nie, denn der Widerstand der Politiker und der Bevölkerung gegen die Überwachung aus der Luft war zu gross. Nun ist er in Baltimore erneut gescheitert.
Dabei nimmt Ross McNutt den Datenschutz durchaus ernst, was ihm selbst Kritiker wie Jay Stanley von der American Civil Liberties Union zu Gute halten. Die Auflösung der Aufnahmen ist bewusst so niedrig gehalten, dass ein Mensch nicht erkennbar ist. Und um einen Missbrauch zu verhindern, überwacht das Überwachungssystem auch die Spezialisten, die damit arbeiten. So lässt sich zu jedem Zeitpunkt rekonstruieren, wer sich wann was angeschaut hat.
Wie in einem Thriller
Erzählt Ross McNutt von seiner Arbeit, so hört sich das an wie Geschichten aus einer Fernsehserie.
Zum Beispiel seine Erfahrungen in der Drogenstadt Ciudad Juárez im Norden Mexikos. Wegen des Drogenkrieges galt die Stadt am Rio Grande mit einer Bevölkerung von 1.5 Millionen als eine der gefährlichsten der Welt. 300 Menschen wurden jeden Monat umgebracht, 200 weitere entführt. Zum Vergleich: In der Schweiz kam es im vergangenen Jahr zu 200 Tötungsdelikten.
2009 bekam McNutt vom Bürgermeister den Auftrag, die Stadt während ein paar Monaten aus der Luft zu überwachen. Dazu richtete der Tüftler vor Ort in einem Hotelzimmer eine provisorische Einsatzzentrale ein. Sein Flugzeug war noch keine Stunde in der Luft, als der erste Mensch erschossen wurde.
Das einzige Beweismittel, dass der Täter hinterliess, war eine Patronenhülse, wie Bloomberg Businessweek berichtet. Doch indem sie den Fluchtweg zurück verfolgten, konnten McNutt und seine Analysten nicht nur den Täter eruieren, sondern stiessen auch noch auf ein Syndikat von Auftragskillern.
Wundermittel im Kampf gegen die Mafia?
Auf einer anderen Aufzeichnung ist zu sehen, wie eine Polizistin ihr Haus verlässt, in ihr Auto steigt und wegfährt. Mehrere Fahrzeuge, die in der Nähe unauffällig parkiert waren, folgen ihr. Plötzlich schiesst von Rechts ein Auto dazwischen und bringt den Verkehr ins Stocken. In dem Moment tötet einer der Verfolger die Polizistin mit mehreren Schüssen in den Kopf. Das Auto der Frau rollte langsam weiter, während die Täter flohen, erzählte ein Mitarbeiter von McNutt der Journalistin Manoush Zomorodi.
Es folgt eine komplizierte Flucht, bei der mehr als ein dutzend Fahrzeuge involviert waren. Auf den Flugaufnahmen tragen die Polizisten jede Fahrt als Linie ein, die alle an einem Punkt enden: Beim Hauptquartier des Drogen-Kartells. Der Anführer war verantwortlich für 1500 Morde. Nach Aussagen eines Beamten der US Regierung war die Überwachung aus der Luft das wichtigste Werkzeug, um das Kartell zu zerschlagen.
Mehr Fragen als Antworten
Es ist schwierig, sich der Faszination solcher Erfolgsgeschichten zu entziehen. Weil jedoch Erfahrungen mit dem System über längere Zeit fehlen, ist eine Beurteilung nicht möglich. So stellen sich viele Fragen, auf die es noch keine Antworten gibt:
- Steigert das System tatsächlich die Aufklärungsquote?
- Wie teuer ist das System im Vergleich zur konventionellen Polizeiarbeit?
- Bringt das System tatsächlich mehr Sicherheit – das heisst, sinkt die Zahl der Delikte oder steigt bloss die Aufklärungsrate?
- Wie kann man einen Missbrauch der neuen Technologie verhindern?
- Gibt es andere Mittel, um einen ähnlichen Effekt zu erzielen?
Die Drogen-Stadt Ciudad Juaréz hat sich in den letzten Jahren komplett gewandelt – von einer der Gefährlichsten der Welt zu einem Ort, der sicherer ist als viele Metropolen in den USA. So sicher, dass der Papst im Februar 2016 dem Grenzort einen Besuch abstattete.
Welche Taktik zu diesem Wandel führte, schilderte Harriet Alexander im Telegraph: Säubern des Polizeikorps von korrupten Beamten, Professionalisierung der Polizeiarbeit, radikale Reform des Strafvollzuges sind die wichtigsten Massnahmen.
Die Flugüberwachung von Ross McNutt erwähnt die Journalistin nicht. Wenn die neue Überwachungstechnologie tatsächlich zur Verbesserung beigetragen hat, dann war es bloss ein Element von vielen im Kampf gegen das organisierte Verbrechen.