SRF News: Laut Amnesty werden Flüchtlinge auf der Balkanroute von kriminellen Banden und staatlichen Behörden misshandelt und erpresst. Wie kommt die Menschenrechtsorganisation zu dieser Einschätzung?
Andreas Ernst: Die Flüchtlinge kommen aus Griechenland, sickern über die relativ schlecht bewachte griechisch-mazedonische Grenze ein, wandern Richtung Norden, durch Mazedonien und Serbien. Hier stehen sie dann an der scharf bewachten Grenze zu Ungarn und befinden sich quasi im balkanischen Niemandsland.
Welche Gefahren drohen den Flüchtlingen?
Gerade in der momentanen Sommerhitze ist das einerseits die Erschöpfung. Aber auch Hunger und Unfälle drohen den Menschen. Im Süden Mazedoniens starben 30 Flüchtlinge: Aus Angst, sich zu verirren, folgten sie den Bahngeleisen und wurden von vorbeifahrenden Zügen erfasst. Schliesslich drohen ihnen auch die Ausbeutung durch Schlepper und die Misshandlung durch die Polizei.
Das grösste Risiko für die Flüchtlinge ist, dass die reichen europäischen Staaten sie im Stich lassen.
Welches ist das grösste Risiko?
Dass die reicheren europäischen Staaten sowohl die Flüchtlinge als auch die betroffenen Länder im Stich lassen. Der vier Meter hohe Zaun, den die ungarische Regierung an der Grenze zu Serbien errichten will, ist ein Signal in diese Richtung. Ein ganz schlechtes.
Sind solche Beschlüsse nicht einfach ein Zeichen dafür, dass die Regierungen mit der Flüchtlingssituation überfordert sind?
Doch, sicher. In all den Ländern mangelt es an Auffang- und Empfangslager. Etablierte Asylsysteme gibt es nicht, denn bis vor wenigen Jahren hat niemand auf dem Balkan Asyl beantragt. Doch nun haben in Serbien beispielsweise seit Anfang Jahr über 35'000 Flüchtlinge einen Asylantrag gestellt. Nur sechs der Gesuche wurden bisher bewilligt – ein Zeichen dafür, dass ein solcher Ansturm das Land total überfordert.
Was unternimmt Serbien, um die Situation in den Griff zu kriegen?
Das Land versucht nun, ein Asylsystem aufzustellen, kämpft dabei aber mit beachtlichen logistischen Problemen. Je stärker Ungarn beispielsweise seine Grenze zu Serbien bewacht, desto mehr stauen sich die Flüchtlinge in Serbien.
In solchen Notsituationen zeigt der Mensch sich von seiner schlimmsten und besten Seite.
Wie reagiert die lokale Bevölkerung?
In solchen Notsituationen kann man sowohl die schlimmsten, als auch die besten Seiten der Menschen beobachten. Im Norden Mazedoniens beispielsweise entführte eine Bande unter Anführung eines Afghanen Flüchtlinge und liess sie erst nach der Bezahlung eines Lösegeldes wieder laufen.
Gibt es auch Menschen und Institutionen, die versuchen, den Flüchtlingen zu helfen?
Ja. Ebenfalls im Norden Mazedoniens gibt es in der Nähe einer Moschee eine Art Rastplatz für die Flüchtlinge. Dort bringen Einheimische und Nichtregierungsorganisationen den Flüchtlingen Essen und Kleider. Auch bieten sie ihnen eine einfache medizinische Versorgung an. Allerdings tauchen auf diesem Rastplatz dann auch die Schlepper auf, die für 150 bis 200 Euro den nächsten Grenzübertritt organisieren.
Das Gespräch führte Philippe Chappuis.