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Diccon Bewes über die Chancen des Brexit (Englisch)
Aus SRFglobal vom 05.04.2016.
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 51 Sekunden.

International Brexit: «Es könnte sehr, sehr knapp werden»

Der britische Autor Diccon Bewes – eigentlich berühmt geworden als Schweiz-Kenner – erklärt in der Sendung #SRFglobal, warum viele Briten grosse Sympathien für den Brexit, einen Ausstieg Grossbritanniens aus der EU hegen.

SRF News: Wie wichtig ist das Referendum für Sie und für Grossbritannien?

Diccon Bewes: Für mich ist es erst mal persönlich sehr wichtig. Mein Status als Fremder hier in der Schweiz ist auch abhängig davon, ob ich EU-Bürger bin oder nicht. Und wie mich gibt es unzählige Briten, die in der EU leben und arbeiten. Und für das Vereinigte Königreich ist es ein wichtiger Meilenstein. Ein Meilenstein, ein für alle Mal definitiv zu entscheiden, was wir eigentlich in und mit Europa wollen.

Wir haben nicht sehr häufig Volksabstimmungen in Grossbritannien. Zu meinen Lebzeiten gab es bis heute nur drei Volksabstimmungen – zwei davon zur EU. Das Verhältnis zu Europa hat in den vergangenen 50 Jahren das britische Denken, aber auch die britische Politik entscheidend geprägt. Und jetzt haben wir eine Frage und bald eine Antwort.

Warum haben die Briten so ihre liebe Mühe mit der EU?

Aus den gleichen Gründen wie die Schweiz: Der Zentralismus der EU stört uns enorm. Auch wenn wir in Grossbritannien selbst sehr zentralistisch regiert werden – alle Macht liegt praktisch in London. Aber das ist unser Zentralismus. Viele Briten haben Mühe mit einer nicht gewählten «Regierung» in Brüssel, einem Parlament, das 28 Länder vertritt und sie glauben, dass in Brüssel wenig Demokratie gelebt wird, die Souveränität der nationalen Staaten immer mehr verloren geht und die Macht immer mehr in Brüssel konzentriert wird.

Vielen ist dabei nicht bewusst, dass mit einem Austritt aus der EU wohl die demokratischen Mitspracherechte in Grossbritannien nicht viel grösser würden, aber wir reden hier ja auch eher von Emotionen als von Fakten. Und die Emotion sagt, wir möchten wieder mehr selber bestimmen können, wohin die Reise geht. Die Briten konnten ja damals auch nicht wirklich über die Frage «EU Ja oder Nein» abstimmen, das erledigte das britische Parlament. Und viele sagen, wir sind mal einer Wirtschaftsunion beigetreten und jetzt sind wir plötzlich in einer politischen Union, zu der wir nie wirklich Ja gesagt haben.

Grossbritannien ist bekanntlich eine Insel – spielt das eine Rolle?

Diccon Bewes

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Legende: SRF

Diccon Bewes wuchs an der Südküste Englands auf. Nach seinem Studium an der London School of Economics arbeitete er als Marketingmanager und schrieb für Reisemagazine, bevor er 2005 in die Schweiz kam. Bekannt wurde Diccon Bewes mit einem unterhaltsamen Reiseführer über die Schweiz: »Der Schweizversteher«. Mehr zum Autor auf www.dicconbewes.com

Ja, unbedingt. Mehr aber eine psychologische Rolle als eine geografische. Wir haben ja jetzt den Tunnel und extrem schnelle Verkehrsverbindungen. Wir sind eigentlich keine Insel mehr. Psychologisch aber sehen viele Briten das ganz anders: Dieses bisschen Wasser hat uns historisch einige Male gerettet – von der spanischen Armada bis hin zu Hitler. Der Kanal ist unsere Verteidigung, unsere Version der Alpen. So wie die Schweizer während des Krieges und bis heute noch das Reduit haben, haben wir das Meer. Wir haben auch nicht immer nach Europa geschaut, im Gegenteil wir haben in unserer Geschichte äusserst selten nach Europa geschaut, wir hatten erst die amerikanischen Kolonien, dann Indien, das Commonwealth. Und das hat unsere Mentalität entscheidend geprägt bis heute. Obwohl wir fast fünfzig Prozent unseres Handels mit der EU betreiben, die andere Hälfte geht eben in den Rest der Welt. Für viele Briten gilt deshalb immer noch Churchills Ansicht: «Wir stehen zu Europa, gehören aber nicht dazu. Wir sind verbunden, aber nicht umfasst.»

Wie stark spielt bei den Brexit-Befürwortern die Fremdenfeindlichkeit eine Rolle?

Ich würde das nicht überschätzen. Klar, wir haben die UKIP, die britische Version der SVP, die gerne auf dieser Klaviatur spielt. Auch bei uns gibt es das Pendant zu den «Bünzlischweizern», wir nennen sie «Little Englander» (kleine Engländer). Diese werden natürlich von UKIP und anderen Parteien am rechten Rand bedient.

Ich war gerade letzte Woche in West-London auf dem Markt und sah alle diese Marktstände mit Indern, Pakistanern, Libanesen – eben die typische englische Multikulti-Gesellschaft. Da war eine alte Frau, die laut schimpfte, alle diese Ausländer liessen keinen Platz mehr für die Briten. Obwohl sie selber irisch war - also auch eine Immigrantin…Aber ich würde nicht sagen, dass die Mehrheit der Briten grosse Angst vor der Einwanderung hat. Grossbritannien hat eine lange Tradition von Einwanderung aus den Kolonien.

Gerade Grossbritannien war ja eigentlich immer für eine Öffnung der EU – und jetzt plötzlich die Brexit-Debatte. Ist das nicht sehr widersprüchlich?

Menschen im Studio
Legende: Diccon Bewes bei Florian Inhauser Kurz vor der Aufzeichnung von #SRFglobal SRF

Ja, sicher. Und das hat eine lange Tradition, wir haben in der Geschichte unzählige Male Koalitionen und Meinungen gewechselt. Auch deshalb nannte man Grossbritannien immer wieder mal in der Geschichte das perfide Albion (Albion ist der antike Name für die britischen Inseln), die europäischen Staaten ärgerten sich immer wieder über die ständig wechselnde Interessenpolitik der Briten. Aber die Erweiterung der EU hat sich jetzt eben auch in Grossbritannien nicht nur positiv bemerkbar gemacht, und diese markiert auch den Aufstieg von UKIP und anderen Parteien.

Was würde ein Brexit für Grossbritannien bedeuten?

Bei einem Brexit kämen wohl sehr schwierige Jahre auf uns zu. Ich weiss, dass das Pro-Brexit-Camp sagt, wir können ja alles verhandeln. Aber gerade die Schweizer können ein Lied davon singen, dass es nicht mehr so einfach ist, mit der EU zu verhandeln. Grossbritannien ist zwar grösser als die Schweiz – aber nicht grösser als die EU.

Aber beide Seiten – auch die Brexit-Gegner - schauen mit der eigenen rosaroten Brille auf die Gegenargumente der anderen. Statistiken werden im Abstimmungskampf schamlos für die eigenen Zwecke missbraucht. Vor kurzem sah ich im britischen Fernsehen ein Zitat, dass das perfekt zusammenfasst: Statistiken werden bei der Brexit-Debatte willkürlich verwendet, ähnlich wie Betrunkene einen Laternenpfahl brauchen – nur zur Unterstützung aber nicht zur Erhellung. Und das macht mich ziemlich traurig. Wir könnten eine ernsthafte Debatte über die Rolle von Grossbritannien in der Welt und in der EU haben, aber sehr vieles bis alles dreht sich um eher dumpfe emotionale Fragen, Fantasien britischer Grösse oder Angstmacherei.

Was könnte den Ausschlag geben?

Ich glaube, viele Briten entscheiden am Ende aufgrund sehr persönlicher Motive – etwa wenn sie an das freie Reisen durch Europa denken, oder an die Roaming-Gebühren oder an die vielen Ausländer, welche die unbeliebten Jobs wie Müllabfuhr oder Strassen reinigen erledigen. Oder letzte Woche machte die Story die Runde, dass es bei einem Brexit deutlich schwieriger für die ausländischen Fussballer würde in der Premier League zu spielen. Das könnte bei vielen Männern plötzlich ein wichtiges Argument werden. Man spricht mehr über die kleinen Details anstatt über die grossen Linien, die grossen Fragen.

Wie geht es aus am 23. Juni?

Es könnte sehr, sehr knapp werden, ich befürchte sogar mit einem Unterschied von wenigen tausend Stimmen.und das wäre das Schlimmste, was passieren könnte, denn dann hätten wir keine klare Entscheidung, sondern dann würde die Diskussion einfach endlos weitergehen. Am besten wäre es, wenn ein einigermassen klares Votum Pro oder Kontra zu Stande kommen würde.

Am Ende glaube ich aber, dass die Briten trotzdem gegen den Austritt aus der EU stimmen werden. Bis jetzt hört man von den Befürwortern der EU noch relativ wenig, die Brexit-Befürworter machen gerade deutlich mehr Lärm, natürlich jetzt auch mit dem Bürgermeister von London, Boris Johnson, der sich lautstark für einen Brexit ausspricht, obwohl das bei ihm auch schon mal anders klang. Viele Briten denken auch, dass Boris Johnson vor allem aus taktischen Gründen eingestiegen ist, weil er so vielleicht Cameron als Premier ablösen könnte. Doch gerade die vielen Unentschlossenen werden sich am Ende des Tages wohl eher gegen die Ungewissheit und die unbekannten Konsequenzen eines EU-Austritts entscheiden und für den Status quo stimmen.

Für viele jüngere Leute ist die EU etwas Selbstverständliches, etwa dass sie frei reisen können, dass ihre Waschmaschine von einem Polen repariert wird oder ihre Eltern ein Haus in Frankreich haben. Jüngere Leute aber gehen weniger abstimmen, von den Älteren rechnet man laut Umfragen, dass über 80 Prozent an die Urnen gehen werden. Und bei der älteren Generation sind die Einwanderung und die britische Souveränität viel wichtiger als etwa Fragen von Reisefreiheit oder günstige Roaming-Gebühren in ganz Europa. Es hängt also vieles davon ab, ob die Jungen in Grossbritannien mobilisiert werden können oder nicht.

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