Die Terrormiliz Islamischer Staat hat offenbar den letzten noch von Regierungstruppen gehaltenen Übergang an der Grenze zwischen Syrien und Irak unter ihre Kontrolle gebracht. «Syrien hat seinen letzten Übergang nach Irak verloren, nachdem sich Regierungstruppen aus dem Gebiet zurückgezogen hatten», sagte Rami Abdel Rahman, Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte.
Mit der Einnahme des Übergangs Al Walid Tanef haben die Dschihadisten einen Grossteil der Grenzlinie zwischen Syrien und dem Irak unter ihre Kontrolle gebracht. Ein Teil der Grenze im Nordosten wird von kurdischen Einheiten kontrolliert.
Enthauptungen in Palmyra
Derweil hat die Extremistenmiliz nach Angaben der Opposition in der Stadt Palmyra mindestens 17 Menschen getötet. Darunter seien Mitglieder der syrischen Sicherheitskräfte und Zivilisten, gab die in Grossbritannien ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte bekannt. Einige der Opfer seien enthauptet worden.
Damit sei die Zahl der Hinrichtungen in der Region seit Beginn der IS-Offensive vor wenigen Tagen auf insgesamt 66 gestiegen.
Ich glaube nicht, dass wir verlieren
US-Präsident Barack Obama hat die jüngsten Erfolge des IS in Syrien und im Irak als «taktischen Rückschlag» bezeichnet. «Ich glaube nicht, dass wir verlieren», sagte er dem «Atlantic Magazine». Allerdings betonte er, der Kampf gegen die Dschihadisten werde mehrere Jahre dauern.
IS-Kämpfer hatten am Wochenende das irakische Ramadi und kurz danach die antike Ruinenstadt Palmyra in Syrien erobert. US-Kampfjets bombardieren seit Spätsommer 2014 IS-Stellungen. Das Pentagon kündigte am Donnerstag an, man werde 2000 weitere Panzerabwehrraketen an den Irak liefern.
«Enormer Verlust für die Menschheit»
Der IS-Vormarsch in Syrien hat weltweit grosse Sorge um das Unesco-Weltkulturerbe in der historischen Wüstenstadt Palmyra ausgelöst. Eine Zerstörung der archäologischen Stätten Palmyras wäre nach Einschätzung von Unesco-Chefin Irina Bokowa ein «enormer Verlust für die Menschheit».
Die IS-Terrormiliz hatte Palmyra am Mittwochabend vollständig unter ihre Kontrolle gebracht und auch die archäologischen Stätten aus den ersten Jahrhunderten nach Christus im Südwesten der Stadt eingenommen, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrecht bestätigte. Auch der IS meldete über seinen Radiosender Al-Bajan die Einnahme der Stadt.
Kultstätten «Ungläubiger»
Die einstige Handelsmetropole gilt als einer der bedeutendsten Komplexe antiker Bauten im Nahen Osten. Im Nordirak hatten IS-Anhänger im Frühjahr bereits einmalige Kulturstätten zerstört, darunter die Ruinen der Jahrtausende alte Stadt Nimrud und die Grabungsstätte Ninive.
Die altorientalischen Überreste stellen nach der radikalen Islam-Interpretation der Dschihadisten Kultstätten «Ungläubiger» dar. Nach dieser Lesart sind auch Bilder und figürliche Darstellungen von Menschen verboten.
Wir brauchen die totale Mobilisierung der internationalen Gemeinschaft
Bokowa forderte erneut ein Ende der Auseinandersetzungen und rief den UNO-Sicherheitsrat auf, sich des Themas Palmyra anzunehmen. «Wir brauchen die totale Mobilisierung der internationalen Gemeinschaft», forderte sie. Fachleute erwarten Schlimmes. Aktivisten aus der Stadt erklärten, bislang habe es keine Zerstörungen gegeben.
Hunderte Statuen gerettet?
Der Leiter der syrischen Museums- und Altertumsbehörde, Mamun Abdul-Karim, sagte laut der staatlichen Nachrichtenagentur Sana, Hunderte Statuen seien vor dem IS-Einmarsch an einen sicheren Ort gebracht worden.
Das IS-Herrschaftgebiet erstreckt sich vor allem über den Norden und Osten Syriens. Nach den jüngsten Geländegewinnen kontrollieren die Extremisten nun mehr als 50 Prozent der Landesfläche. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Wüstengebiete.
Auch im benachbarten Irak kontrollieren sie riesige Regionen. Dort hatten sie im Westen des Landes am vergangenen Wochenende die Provinzhauptstadt Ramadi eingenommen. Die Terrormiliz beherrsche nun auch fast alle Öl- und Gasfelder Syriens, erklärten die syrischen Menschenrechtsbeobachter.
Ausgangssperre verhängt
Aktivisten des Medienzentrums Palmyra berichteten, die Terrormiliz habe eine Ausgangssperre verhängt und durchkämme die Häuser auf der Suche nach Regierungsanhängern. Laut den Menschenrechtsbeobachtern gibt es in Palmyra seit vier Tagen keinen Strom und auch weder Wasser noch medizinische Versorgung.
Unklar ist, wie viele Menschen sich noch in Palmyra aufhalten. Den Aktivisten zufolge sind noch mehrere Zehntausend Menschen in der Stadt. Die Angaben der Aktivisten zur Lage in der Stadt liessen sich nicht unabhängig überprüfen.