Die «Mütter von Tiananmen» nennen sie sich. Sie sind Angehörige von Opfern des Massakers auf dem Platz des himmlischen Friedens vor 24 Jahren.
Kurz vor Beginn des Volkskongresses fordern sie die Aufklärung des brutalen Militäreinsatzes und eine öffentliche Debatte über die Geschehnisse von 1989.
Kritik auf breiter Front
Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo soll freigelassen werden. Der Aufruf wurde von Südafrikas Erzbischof Desmond Tutu lanciert. Dem Appell hat sich auch eine Reihe von chinesischen Unterzeichnern angeschlossen.
Und in einem offenen Brief an Peking rufen bereits zum zweiten Mal rund 120 Wissenschaftler, Journalisten und Menschenrechtler zu politischen Reformen in der Volksrepublik auf. Sie fordern die Unterzeichnung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte.
Die Briefschreiber nehmen den neuen Parteichef der kommunistischen Partei, Xi Jinping beim Wort. Dieser hatte in den vergangenen 100 Tagen mehrfach Transparenz und politische Reformen versprochen. Zudem versprach er, rigoros gegen Korruption vorzugehen.
Die neue Regierung soll es richten
Doch wie wird Chinas Staatsapparat und Propagandamaschine auf die Appelle reagieren? In der Vergangenheit waren Repression und Zensur die gängige Methode. Oder findet die Kritik bei der neuen Staatsführung Gehör? Und läutet Parteichef Xi tatsächlich eine neue Phase der Offenheit ein?
Soviel steht fest: Vor vier Monaten fand ein Generationenwechsel in der Führung der Kommunistischen Partei Chinas statt. Nun stehen die Verjüngung sowie der umfassende Umbau der Regierung an. Geschehen soll dies an Chinas Volkskongress. Es wird der erste grosse Auftritt des künftigen Ministerpräsidenten Li Keqiang.
In der mehr als 60jährigen Geschichte der Volksrepublik gilt die Umbruchphase erst als die zweite «Umbruchphase überhaupt.»
Der im November gekürte Parteichef Xi Jinping (59) wird auch das Präsidentenamt übernehmen. Der zehn Jahre ältere technokratische Staatschef Hu Jintao wird nun ganz von der politischen Bühne abtreten.
Die Partei als Hindernis
Die Bilanz der alten Führung ist bescheiden, die Skandale waren dafür umso grösser. Kritiker bezeichnen sie als «verlorenes Jahrzehnt». Nun ruhen grosse Hoffnungen auf dem Regierungswechsel.
Die Probleme sind drängend: eine Abschwächung der Konjunktur, die Kluft zwischen Arm und Reich wird grösser. Chinas Regierung steht vor vielen Herausforderungen. Vom Treffen des alljährlichen Pseudoparlaments gibt es keine Signale für grössere politische und wirtschaftliche Reformen. «Ich sehe da nichts», sagt Wu Qiang.
Trotzdem: Die Hoffnung ruht auf Ministerpräsident Keqiang. Er ist die Nummer Zwei in der neuen Machthierarchie. Ihm werden gute wirtschaftliche und juristische Kenntnisse nachgesagt.
«Ich wünsche, er könnte einen Durchbruch im Aufbau des Rechtssystems bringen», sagt Professor Wu Qiang. «Es ist die einzige Hoffnung für Chinas Zukunft und ein wichtiger Punkt, wenn es um den Umgang mit Aufruhr oder die Wiederherstellung der Ordnung geht.» Qiang spricht damit insbesondere die wachsenden sozialen Spannungen an.
Veränderungen ausgenützt
Die Erwartungen des Milliardenvolkes sind hoch. Doch die höchste Hürde für nötige Reformen ist die neue Führungsriege: «Das grösste Hindernis liegt in der Partei», sagt Professor Zhang Ming von der Volksuniversität. «Die Frage ist, ob sie sich selbst reformieren kann.»
Mit den marktwirtschaftlichen Veränderungen haben Funktionäre die politische Macht zu ihrem eigenen Vorteil umgemünzt. Mächtige Wirtschaftsinteressen einzelner Gruppen dominieren darum Chinas Politik. Auch Professor Wu Qiang sieht Probleme in der Partei. «Es ist eine konservative Gruppe, die Reformen behindert.»