Die zwei Fälle von tödlicher Polizeigewalt gegen Afro-Amerikaner in den USA haben fatale Konsequenzen nach sich gezogen. An einem Protestmarsch der «Black Lives Matter»-Community in Dallas, Texas, kam es zu gezielten Angriffen eines Schützen auf die mehrheitlich weissen Polizisten vor Ort.
Die Opferrolle war in Texas also für einmal genau umgekehrt, doch hat der Vorfall etwas gemeinsam mit der Tötung von Alton Sterling in Louisiana und Philando Castile in Minnesota vor einigen Tagen: Alle Zwischenfälle wurden mit Handykameras festgehalten.
Mehr noch: Die Freundin von Philando Castile, die neben ihm im Auto sass, als ein Polizist die beiden anhielt und schliesslich auf Castile schoss, übertrug das Geschehen via Facebook-Livestream ungefiltert ins Internet. Auch in Dallas wurde die Schiesserei auf Polizisten per Liveübertragungen von Augenzeugen unmittelbar erlebbar.
Demokratisierung oder Überforderung
Es stellt sich die Frage, ob solche Livestreams überhaupt zu verantworten sind. Der Mobile-Journalist Marcus Bösch sieht in dieser neuen Technologie grundsätzlich einen grossen Schritt zur Demokratisierung. Heutzutage könne jede Person mit einem Smartphone eine Liveübertragung starten.
Das erlaube verschiedensten Perspektiven auf ein Ereignis: «Was wir jetzt erleben, ist eine ganz neue Unmittelbarkeit. Und das verändert auch unseren Wahrhaftigkeitsanspruch. Wir haben nun das Gefühl, die jeweilige Situation gesehen und komplett durchdrungen zu haben», erklärt Bösch.
Er gesteht aber auch Nachteile bei Livestreamings ein. Etwa die fehlende Kontrolle über die Inhalte, wie etwa bei den Ereignissen in Dallas. «Es kann und wird alles gestreamt. Vom Selbstmord bis zum Terroranschlag.»
Wir müssen uns fragen, ob wir das wirklich sehen wollen und müssen.
Kein Gatekeeping, keine Relevanz-Kriterien, keine Einordnung
Das Problem der wegfallenden Funktion des «Gatekeepers», des Torwächters, die bislang die klassischen Medien innehatten, erkennt auch der Digital-Aktivist Andreas Freimüller. Livestreams seien roher und nichteditierter «Content» (Inhalte), der zwar eine hohe Glaubwürdigkeit aufweise, aber gleichzeitig auch gefährlich sei.
«Die Reaktionen der Menschen auf das Gesehene fallen viel intensiver aus», erklärt Freimüller. Es bestehe dann die Gefahr, dass es zu dramatischen Resonanzen oder Reaktionen wie dem Angriff auf weisse Polizisten in Dallas komme.
Eigenverantwortung der Nutzer
Was muss also getan werden, um diese gefährliche Wirkung von Livestreams einzudämmen? Für Freimüller liegt es am Nutzer: «In Zukunft wird man als User den Schutz vor aufwühlenden oder brutalen Livestreams selber in die Hand nehmen müssen.» Man könne zum Beispiel auf Facebook die Autoplay-Funktion, die Videos automatisch laufen lässt, ausschalten und sich so bewusst gewissen Inhalten entziehen.
Facebook hatte das Video des Livestreams der Freundin des getöteten Philando Castiles kurzzeitig von seiner Plattform entfernt. Das sei aber keine Option, meint der Digital-Aktivist Freimüller: «Wenn man etwas vom Netz nimmt, kann man sicher sein, dass es jemand bereits gespeichert hat und anschliessend nur noch fleissiger verbreiten wird. Man kann solche Aufnahmen nicht stoppen.»
Dieser Ansicht ist auch Marcus Bösch: «Wir können die Livestream-Funktion nicht mehr wegdiskutieren. Sie lässt sich nicht verbieten und wird auch nicht verschwinden.»
Livestreams sollten darum in Zukunft mehr wegen ihrem Potenzial zur Demokratisierung Schlagzeilen machen und nicht, weil sie zur Dokumentation von Morden und Rassismus herangezogen wurden.
Hier die von SRF News als Instant-Video redigierten Ausschnitte aus dem Video des Facebook-Livestreams der Freundin von Philando Castile, die von einem Polizisten angehalten wurden, der schliesslich auf Castile schoss: