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International «Der Friedensprozess ist grösser als Erdogan»

Die Kurden werfen der Türkei vor, sie im Kampf gegen die IS-Terrormiliz zu wenig zu Unterstützen. Die Spannungen nehmen zu, Beobachter sehen den Friedensprozess zwischen den Kurden und der Türkei in Gefahr. Doch keine der beiden Seiten hat ein Interesse an einem Abbruch der Gespräche.

Mithat Sancar ist ein weit herum geachteter Staatsrechtler in der Türkei. Der Professor lehrt an den Universitäten von Ankara und Istanbul. Er spricht mehrere Sprachen und mischt sich auch in die öffentliche Debatte ein.

Sancar sieht Präsident Recep Tayyip Erdogan ässerst kritisch. Dabei hält er das Gebot der Fairness hoch: Nicht nur Erdogan, auch die kurdische PKK schlage derzeit harte Töne an. Das sei auf beiden Seiten Taktik und Strategie, sagt der Staatsrechts-Professor.

Niemand will den Frieden riskieren

Kurden halten Kobane

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Im Kampf um das nordsyrische Kobane scheint die Verstärkung aus dem Nordirak den Kurden tatsächlich etwas zu bringen: Gemäss eigenen Angaben konnten die Verteidiger die IS-Terroristen in einigen Teilen der Stadt zurückdrängen. Demnach half Artilleriefeuer der Peschmerga aus dem Nordirak dabei, Nachschubwege des IS zu unterbrechen.

Hinter den Kulissen würden aber weder Erdogan noch der inhaftierte Kurdenführer Abdullah Öcalan den Friedensprozess riskieren. Zwar gebe es keine totale Garantie für die Fortsetzung der Gespräche, so Sancar. «Aber nach zwei Jahren kann keine der beiden Parteien einfach sagen, sie würden nicht mehr mitmachen.» Für ein Ende des Friedensprozesses brauche es starke und glaubwürdige Argumente. Zu viel hätten beide Seiten bereits investiert, zu viel stehe deshalb auf dem Spiel. Das wisse Öcalan genauso gut wie Erdogan.

Die offizielle Reaktion der Kurden in der Türkei ist purer Pragmatismus. Sahuran Oluç sagt, das Misstrauen gegenüber Erdogan bleibe so tief wie eh und je. Er ist stellvertretender Vorsitzender der HDP, des politischen Arms der PKK. Die Weigerung Erdogans, türkische Kurdenkämpfer in die von der IS-Terrormiliz belagerte Stadt Kobane zu lassen, sei beschämend.

Trotzdem würden die PKK und die politischen Parteien der Kurden am Friedensprozess festhalten. Das sei kein Zweckoptimismus, im Gegenteil: «Wir wollen die Verhandlungen intensivieren und verlangen von der türkischen Regierung gerade jetzt ernsthafte Zugeständnisse an die Kurden.»

Es geht um die Existenz der Kurden

Die türkische Publizistin und Schriftstellerin Bejan Matur war wie viele ihrer Landsleute erleichtert, als der kurdisch-türkische Krieg im Frühling 2013 zum Erliegen kam. Er dauerte mehr als 30 Jahre und forderte mehr als 40'000 Tote.

In Kobane sieht Matur ein Symbol und einen historischen Wendepunkt für ihr Volk. «In einer Situation wie jener in Kobane stehen alle Kurden zusammen», sagt sie. Dann würden alle Kurden-Fraktionen in der Region unwichtig. «Es geht um die Existenz von uns Kurden und dafür kämpfen wir vereint. Jetzt kann uns die Welt nicht mehr länger ignorieren.»

Zwar stünden die Kurden in Kobane einer hochgerüsteten IS-Miliz gegenüber, doch ihr Vorteil sei ein mentaler. «Die Kurden haben nichts mehr zu verlieren – sie haben bereits alles verloren», sagt die Publizistin. Die Kurden seien mutig und hätten überhaupt keine Angst mehr. «Das ist die Quelle ihrer Kraft.»

Audio
«Friedensprozess wird nicht kollabieren»
aus Rendez-vous vom 05.11.2014. Bild: Keystone
abspielen. Laufzeit 5 Minuten 3 Sekunden.

Erdogan fehlt die Empathie

Auch Matur wirkt inmitten des Dramas abgeklärt. Sie registriert die Dinge nüchtern. Zum Beispiel, dass Präsident Erdogan sagte, Kobane werde fallen, als die IS-Terroristen auf die Stadt vorrückten. Der türkische Präsident habe kein Recht, so etwas zu sagen, so Matur. «Er zeigt damit, dass er keine Empathie für seine Mitbürger empfindet und kein Erbarmen kennt.» Das würden ihm die Kurden nie vergessen.

Nicht vergessen, misstrauisch und pragmatisch bleiben: Auch die kurdische Autorin fürchtet keinen Kollaps der Verhandlungen mit Erdogan. «Der Friedensprozess ist viel grösser als die Person Erdogan», sagt sie. Ein Politiker komme – und er gehe auch wieder.

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