SRF News: Im Juni schworen die Islamisten des sogenannten «Kaukasus-Emirats» den Treueeid auf den Islamischen Staat. Wie bedrohlich ist das?
Jeronim Perovic: Wir wissen nicht, ob sich alle islamistischen Gruppierungen im Nordkaukasus wirklich dem Islamischen Staat angeschlossen haben. Was man jedoch festhalten kann: Ein Anschluss an die IS-Terrormiliz bedeutet eine massive Erweiterung des Netzwerks und bietet den nordkaukasischen Islamisten Zugang zu neuen Ressourcen.
Was bedeutet dies?
Der Anschluss an den IS kann als Zeichen dafür gelesen werden, dass die Islamisten im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren unter Druck gekommen sind. So sind in den vergangenen zwei Jahren drei der Anführer des Kaukasus-Emirats von russischen Sicherheitskräften liquidiert worden. In der Verbindung zum IS sehen die Islamisten nun neue Möglichkeiten. Man darf nicht vergessen: Die Unruhen im Kaukasus gehen zurück auf die Sezessionsbestrebungen in Tschetschenien Anfang der 1990er Jahre. Diese waren nicht religiös motiviert. Erst später kam es zu einer Islamisierung des Konflikts, der aber im Kern immer sehr lokal blieb. Das Ziel war die Unabhängigkeit von Russland und die Schaffung eines eigenen Staates – sei es unter der säkularen oder der religiösen Fahne. Neu ist jetzt, dass diese Unabhängigkeit im Rahmen des IS erreicht werden soll.
IS-Kämpfer, die in die Kaukasusregion zurückkehrten, haben das Terrain für den Zusammenschluss geebnet. Welche Gefahr geht von ihnen aus?
Schätzungen gehen davon aus, dass mehrere Hunderte, vermutlich aber nicht mehr als 2000 Personen nordkaukasischer Herkunft in Syrien und Irak an der Seite des IS kämpfen. Darunter viele Tschetschenen. Diese Personen sind kampferprobt – sie gelten als Speerspitze des Islamischen Staats in Syrien und im Irak. Einer der bekanntesten ist Abu Omar al-Shishani, ein Tschetschene aus dem georgischen Pankisi-Tal. Der Abzug vieler Kämpfer aus dem Nordkaukasus hatte zur Folge, dass der dortige Widerstand geschwächt worden ist. Nun kehren diese Kämpfer teilweise wieder zurück und wollen den Widerstand gegen Russland neu beleben. Der Anschluss des Nordkaukasus an den IS hat jedoch weniger eine praktische, als vielmehr eine starke symbolische Bedeutung. Die militärischen Gewichte werden dadurch nicht wesentlich verschoben.
Für den IS ist diese Angelegenheit mit Prestige verbunden. Der Islamische Staat ist in einer neuen Region der Welt verankert. Und man darf nicht vergessen: Der Islam hat bereits im 7. Jahrhundert in Dagestan Fuss gefasst und war eine Zeitlang Teil des damaligen Kalifats. Es bestehen also historische Anknüpfungspunkte.
Mit der Rückkehr der Kämpfer und dem Anschluss an den IS steigt die Gefahr von Anschlägen im Nordkaukasus, aber auch in russischen Städten. Damit soll der Welt vor Augen geführt werden, dass der IS-Treueschwur nicht nur ein leeres Versprechen ist.
Für Russland ändert sich in Bezug auf die militärische Bedrohung nicht viel.
Und diese möglichen Anschläge könnten von Syrien aus in Auftrag gegeben werden?
Es ist schon so, dass nun neue Organisationsstrukturen aufgebaut werden. Die Rückkehrer bringen ihre persönlichen Kontakte und Erfahrungen mit. Sie wissen, wie der IS organisiert ist und wie er funktioniert. Wenn der Nordkaukasus Teil des IS ist, reichen diese streng hierarchischen Kommandostrukturen bis in die Region. Dadurch besteht neu ein Zugriff auf mehr Kämpfer, Informationen und Mittel.
Wie sieht die Gegen-Strategie Russlands aus?
Für Russland selber ändert sich in Bezug auf die militärische Bedrohung nicht viel. Die russischen Sicherheitskräfte sind seit rund 20 Jahren in der Region in grosser Zahl präsent. Die Armee geht dabei jeweils äusserst brutal gegen den bewaffneten Widerstand vor. So gesehen dient der Nordkaukasus der russischen Armee als eine Art Trainingscamp. Mit dem Anschluss der Islamisten sieht sich Putin bestätigt, dass der Nordkaukasus Teil der internationalen Terrorfront ist, wie er dies auch früher immer betont hatte. Und Russland sieht sich in dieser Beziehung als natürlicher Verbündeter des Westens im Kampf gegen den Terrorismus.
Gibt es neben der militärischen Vorgehensweise noch andere Optionen?
Das eigentliche Problem im Nordkaukasus sind nicht militante Islamisten, sondern die desolate wirtschaftliche und soziale Situation: Die Arbeitslosigkeit ist enorm hoch, die Bevölkerung – insbesondere die Jugendlichen – leiden unter Perspektivenlosigkeit. Armut und Korruption sind weit verbreitet. Gelder aus Moskau versickern in den Taschen von Politikern und Beamten. Eine nachhaltige Entwicklung ist unter diesen Bedingungen nicht möglich.
Will Russland diese Probleme überhaupt lösen?
Ein langfristiger Plan für die Region fehlt. Russland selbst scheint nicht in der Lage, die Probleme in den Griff zu bekommen. Dafür wäre meiner Meinung nach eine Zusammenarbeit mit anderen Staaten und internationalen Hilfsorganisationen nötig. Doch das hat Moskau bisher abgelehnt.
Das Gespräch führte Richard Müller.