«Zum Glück hängen heute Morgen gleichzeitig Sonne und Regen über Paris. Massen Menschen, schon Stunden vor dem Marsch. Alle strömen auf die Strasse. Mit mir. Ohne Worte. Da stehe ich, laufe ein paar Schritte und habe Angst. Angst, dass dieses Land, dessen Leben ich erst seit wenigen Monaten einatme, dass dieses Land plötzlich ein anderes Land sein wird.
Dieser Riss in meiner neuen Heimat lässt alle Farben verblassen. Übrig bleiben schwarz, weiss. Drei Worte. ‹Je suis Charlie.›
Alles tönt plötzlich anders. Eine Sirene ist nicht mehr eine Sirene, ein Blaulicht nicht mehr einfach blau und das Knattern der Rotoren eines Helikopters nicht mehr vertraut. Und dann erhebt sich langsam eine Flut von Bildern. Und erste Gefühle. Endlich. Seit Tagen. Obwohl ich keinen Platz für sie habe. Es ist ein Film, den ich eigentlich gar nicht sehen will.
Das erste Telefon am Mittwoch
Das erste Telefon am Mittwoch kurz vor Mittag aus der Redaktion in Bern. Seither ich bin dankbar um diese 24 Stunden Nachrichtensender, die offenbar immer genügend Kollegen haben, die dort sind, wo ich mich nie hinstellen würde.
Es sind die gleichen Kollegen, denen ich in der Vergangenheit mehr Zeit wünschte, Nebensächliches zu vergessen. Jetzt gibt es nichts Nebensächliches mehr. Ich bin dankbar um Live-Ticker und Hashtags. Dieses Nachrichten-Tempo ist unerträglich, macht das Arbeiten unmöglich. Weil es zu viel ist.
Wer will all diese Bilder sehen? Von Attentätern, die aus allen virtuellen Welten aufsteigen. Wie kann ich von mutmasslichen Tätern reden, obwohl alle Kanäle gleichzeitig mir diese Fratzen aus Überwachungskameras vors Gesicht halten.
Hier winkt ein kleiner Knabe einem Polizisten zu. Bonjour Monsieur. Für einen kurzen Moment ist die Anspannung verflogen.
Warum rufen Journalisten Geiselnehmer an, wenige Minuten bevor Sonderkommandos zum Sturm ansetzen, um diese Töne nach deren Tod auszustrahlen? Warum gibt es Menschen, die andere Menschen töten wollen, weil sie Menschen zum Lachen zwingen? Mit wenigen Strichen grosse Geschichten erzählen, die ich nie hätte in Worte fassen können.
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Es ist eine Attacke auf meinen eigenen Beruf.
Ich werde das erst viel später realisieren.
Das grosse Schweigen am Donnerstag
Am Mittag läuten die Kirchenglocken von Notre Dame de Paris. Journalisten schweigen, Nachbarn schweigen, das Radio schweigt, alles schweigt. Alle Schüler in allen Schulen schweigen. Meine Tochter schweigt.
Kinder stellen die unmöglichsten Fragen. Warum wollen Menschen töten? Haben die Polizisten die Räuber gefangen? Muss ich Angst haben? Ich weiche aus.
Familien Hand in Hand. Grosseltern, Eltern, Kinder. Alle warm eingepackt. Der Wind ist kalt. Schon wieder Regen und Sonne gleichzeitig.
Dann geht das Rennen wieder los, noch schneller, obwohl es eigentlich gar nicht schneller als schneller gibt. Warum finden Zehntausende Polizisten die Stecknadel nicht. Das kann doch nicht sein. Die waren denen doch bekannt.
Es gibt hierfür 1000 Erklärungen, Null Verständnis.
Wieder ‹Je suis Charlie›. Diesmal am Zeitungskiosk. Auf einem kleinen Bildschirm neben der Kasse, der mir an anderen Tagen Millionengewinne verspricht. Ich empfinde Solidarität, Stärke, Mut und staune, über das, was da ins Rollen kommt.
Menschen stehen Seite an Seite. Halten sich die Hand, umarmen sich. Halten Blumen, Kerzen, halten übergrosse Bleistifte in die Höhe. Schweigen. Freuen sich über so viele Menschen um sich herum.
Es wird wieder dunkel. Wie wird dieser Mann weiterleben, der im zweiten Stock seiner Druckerei um Hilfe hätte schreien wollen, während im ersten Stock Verrückte wild um sich zu schiessen begannen?
Rauch, Schüsse, Ungewissheit. Ich muss am Radio etwas beschreiben, wofür ich ein ganz anderes Skript im Kopf habe.
Darf ich das Gefühl haben, dass es besser ist, dass alle Attentäter tot sind?
Ist das gerecht? Hätte ich ihnen das Überleben zugestehen können.
Inmitten dieser schweigenden Mehrheit heute Nachmittag spüre ich Geborgenheit und Hoffnung. Dass ich dieses Land am Ende vielleicht doch wieder finden könnte; wenn wieder Alltag herrscht. Irgendwann.
Der andere Alltag.»