SRF News: Was meinte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel konkret, als sie sagte, man müsse «mit Assad reden»?
Michael Lüders: Die Politik der Bundesregierung in Deutschland ist gerade dabei, sich um 180 Grad zu ändern. In der Vergangenheit war es so, dass die deutsche Regierung mit Assad überhaupt nicht reden wollte, obwohl man inoffiziell über die Geheimdienste immer noch in Kontakt mit ihm geblieben war. Die Kehrtwende kommt aus der Einsicht, dass die westliche Politik, Baschar al-Assad um jeden Preis zu stürzen, gescheitert ist. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass dieses Regime stürzen könnte. Selbst wenn es das täte, würden nachher nicht Freiheit und Demokratie ausbrechen, sondern wahrscheinlich würde der IS in Damaskus einmarschieren. Vor dem Hintergrund des verstärkten russischen Engagements in Syrien hat die deutsche Bundeskanzlerin ihre Politik der vergangenen Jahre de facto revidiert.
Assad kontrolliert nur noch Reste des syrischen Staates. Geht es darum, dass diese Teile stabil bleiben, damit nicht noch mehr Flüchtlinge fliehen?
Das ist nicht zuletzt ein wesentlicher Hintergrund. Assad kontrolliert noch etwa 30 Prozent des Territoriums Syriens. Die übrigen Landesteile sind weitestgehend unter der Kontrolle des IS, etwa die Hälfte, und der Nusra-Front, des syrischen Ablegers von Al Kaida. Die Russen und die Iraner sind entschlossen, das Regime von Assad in diesem Kernbereich zu halten.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie man mit der ganzen Flüchtlingskrise umgeht. Die Sorge in Deutschland ist, dass diese Krise die Menschen in Europa überfordert. Deshalb will man die Ursachen des Konfliktes angehen – den Krieg in Syrien. Die Vorstellung, man könne gleichermassen den IS und das Regime von Assad bekämpfen, hat sich als illusorisch erwiesen. Es gibt zwar viel Kritik an Assad, aber es gibt keine geeinte Politik und es gab nie die Bereitschaft, ihn ernsthaft stürzen zu wollen. Deshalb findet nun eine Neujustierung statt. Im Grunde genommen anerkennt man, dass man in den letzten vier Jahren die falsche Politik verfolgt hat. Man hat Assad viel zu früh abgeschrieben, und der Nutzniesser dieser Entwicklung ist ohne Zweifel Russland.
Was könnte das Ziel von Verhandlungen mit Assad sein?
Optimistisch gedacht kann ich mir vorstellen, dass die Russen gemeinsam mit den westlichen Staaten eine Lösung finden. Sie könnte so aussehen: Assad wird mittelfristig Richtung Russland ins Exil gehen. Das verbleibende Regime selbst wird sich um andere Machtbasen erweitern, beispielsweise um religiöse Minderheiten. Dann wird nicht mehr nur ein Regime sein, das die Interessen der Familie Assad und der mit ihm verbündeten religiösen Alewiten reflektiert. Und wenn dieses gewinnen sollte, dann gäbe es ein Minimum an Rückhalt für dieses Regime in den Kernlanden. Es ist jedenfalls interessant in Syrien, dass die meisten binnenvertriebenen Flüchtlinge in Lagern von Assad untergebracht sind. Würden diese Lager zusammenbrechen, würden sofort noch mehr Menschen fliehen.
Für solche Verhandlungen braucht es weitere Partner: die USA, Russland, Iran. Machen die mit?
Auf jeden Fall. Die Russen sind fest entschlossen, den IS zu bekämpfen, denn er ist auch für Russland eine Gefahr. Er hat viele Anhänger im nördlichen Kaukasus. Moskau befürchtet, dass diese Grenzregion zu Iran, zu Pakistan, zur Türkei ebenfalls destabilisiert werden könnte. Die Russen wollen den IS bekämpfen, aber das Regime von Assad am Leben erhalten. Sie haben dem Westen angeboten, im Kampf gegen den IS zu kooperieren. Das hat man in Washington zunächst nicht gerne gehört, hat nun aber die Haltung geändert. Es gibt jetzt direkte militärische Kontakte zwischen Washington und Moskau. So skrupellos diese Machtpolitik, diese Geopolitik, auch ist – es geht natürlich nicht um das, was die Menschen in Syrien wollen. Es gibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Alternative zur Annäherung zwischen den USA und Russland. Die einzige Alternative wäre, dass der Westen Bodentruppen entsenden würde, das wird er aber auf keinen Fall tun.
Es gibt zum jetzigen Zeitpunkt keine Alternative zur Annäherung zwischen den USA und Russland.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.