Der Direktor des Brüsseler Think Tank Bruegel ist kein Mann der schrillen und lauten Töne. Guntram Wolff spricht unaufgeregt, aber mit klarer Botschaft: Was auf Jean-Claude Juncker und das weitere künftige Spitzenpersonal der EU zukomme, sei enorm. «Die letzten Chefs mussten eine riesige Finanzkrise meistern», sagt er. Die neuen stünden vor ähnlich grossen Herausforderungen.
Das erste und dringlichste Problem sei der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, so Wolff. Europa müsse endlich eine Wachstumsstrategie verfolgen, den Menschen wieder eine Perspektive eröffnen und eine Antwort auf die wachsende EU-Skepsis liefern. Wolff begrüsst Junckers Ankündigung ausdrücklich, bis im nächsten Frühling ein EU-Investitionsprogramm von gegen 300 Milliarden Euro zu präsentieren.
«Es gibt zu viele Kommissare»
Ein solches Investitionsprogramm verweist jedoch auf das zweite grosse Problem: die EU-Kommission. Heute besteht sie aus 28 Kommissaren, die alle ihren eigenen Zuständigkeitsbereich haben. «Der entscheidende Punkt ist, dass die Wachstumsstrategie, die von der Kommission derzeit entwickelt ist, nur partiell funktioniert und teilweise widersprüchlich ist», sagt Wolff. «Einfach weil wir so viele unterschiedliche Kommissare haben, die alle irgendwie damit zu tun haben.»
Es komme vor, dass der eine Kommissar eine altmodische Industriepolitik betreibe, während der andere den Binnenmarkt und den Wettbewerb fördern wolle. Das passe einfach nicht zusammen, so Wolff. EU-Kommissionspräsident Juncker müsse die Kommission dringend reformieren.
Der Direktor des Brüsseler Think Tank Bruegel fordert, dass die Kommission eine gemeinsame Wachstumsstrategie festlegt und dabei zwölf Bereiche als zentrale Themen definiert. Jeder Bereich hätte einen Kommissar an der Spitze. Die restlichen Kommissare würden keinen eigenen Bereich mehr führen. Sie wären aber weiterhin Mitglied des Gremiums und könnten dort mitentscheiden.
EU-Skeptiker ernst nehmen
Dabei handelt es sich um einen utopischen Vorschlag, das weiss auch Wolff. Trotzdem sei jetzt nach den Europawahlen der richtige Zeitpunkt für eine Diskussion über die Kommission. «Wir haben jetzt die Situation, wo vielen Politikern der Schrecken der Wahlergebnisse noch in den Knochen steckt.» Die Wähler hätten deutlich gemacht, dass sie weniger Brüssel wollten.
«Wenn man das umsetzten will, braucht man eine schlankere Kommission, die weniger Aktivitäten unternimmt», so Wolff. Eine schlankere Kommission und damit auch eine schlankere EU könnte auch eine Antwort sein an die EU-Skeptiker, eine Antwort auch an Grossbritannien.
Gleichzeitig sei in gewissen Bereichen auch mehr Europa notwendig. Im Euro-Raum etwa müsse Brüssel stärker eine aktive Wirtschaftspolitik betreiben können, um den Euro langfristig zu stabilisieren. Hier sieht Wolff die dritte grosse Herausforderung.
«Juncker muss Akzente setzen»
Allerdings befürchtet Wolff, dass als Reaktion auf die wachsende EU-Skepsis und unter dem Eindruck, dass sich der Euro-Raum beruhigt habe, notwendige Integrationsschritte in der Währungsunion auf die lange Bank geschoben werden. Er sei besorgt, dass man auf Problemen sitzen bleibe, «weil man das Gefühl hat, die Lage sei einigermassen unter Kontrolle». Wolff plädiert dafür, jetzt zu handeln, um genügend vorbereitet zu sein, sollte es ein nächste Mal krachen.
Der neu gewählte EU-Kommissar hat in seiner Rede vor dem EU-Parlament versprochen, die grossen Probleme anzupacken. Juncker müsse insbesondere am Anfang seiner Amtszeit die richtigen Akzente setzen, so Wolff. Er müsse die EU und den europäischen Rat dazu treiben, all die Dinge ernsthaft zu diskutieren. Ansonsten blieben zahlreiche Probleme ungelöst.