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Demonstration. Viele Menschen, eine Frau schwenkt eine Plakat mit Forderungen in die Höhe.
Legende: 1.Mai - Kundgebungen in Brasilien. Die Demonstranten forderten höhere Minimallöhne. Keystone

International «Die Krise ist auch in einem Jahr nicht vorbei»

Brasilien ist gleich doppelt in der Krise. Politisch erschüttert ein riesiger Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras das grösste Land Lateinamerikas. Zudem steckt Brasilien in einer hartnäckigen Rezession. Ein Kenner erzählt.

Alexander Busch

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Der Journalist ist in Venezuela aufgewachsen. Busch berichtet seit mehr als zwanzig Jahren aus Brasilien über Lateinamerika u.a. als Korrespondent der «Neuen Zürcher Zeitung». Er lebt und arbeitet in São Paulo und Salvador/Bahia.

Herr Busch: Teilen Sie die Einschätzung Rousseffs, dass sich Brasilien in spätestens zwölf Monaten wieder erholt?

Alexander Busch: Ich denke nicht. Brasilien steckt in einer so tiefen und langen Rezession, dass die Krise auch in zwölf Monaten nicht vorbei ist. Im besten Fall mehren sich in einem Jahr die Anzeichen, dass die Wirtschaft weniger schrumpft als bisher. Aber das halte ich für sehr optimistisch.

Was ist das Hauptproblem der brasilianischen Wirtschaft?

Im Moment die fehlenden Investitionen und die überschuldeten Konsumenten. Niemand traut sich zurzeit, etwas Höherwertiges zu kaufen. Die Firmen wollen nicht investieren.

Weil es sich nicht lohnt?

Weil nicht absehbar ist, wie sich die Lage in Brasilien entwickelt. Niemand weiss, wohin das Land driftet.

Warum hat es Brasilien nicht geschafft, sich wirtschaftlich an das westliche Niveau anzunähern?

Holländische Krankheit

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Schon die Niederlanden musste mit dem Problem von hohen Überschüssen im Aussenhandel kämpfen. In den 1960er Jahren führte – ähnlich wie in Brasilien – die Entdeckung von Erdgasvorkommen zur Aufwertung der Landeswährung. Das führt zu Absatzproblemen von Gütern der übrigen Industriesektoren.

Das Land hat fast eine Dekade lang enorm von den Rohstoffeinnahmen profitiert. Das erhöhte den Wechselkurs und machte Brasilien teurer, da mehr Dollar ins Land flossen. Unter Ökonomen bezeichnet man das als «die holländische Krankheit». Für die Industriekonzerne ist das insofern schädlich, da ihre Produkte zu teuer für den Weltmarkt werden. So sind die Lebensunterhaltskosten in Sao Paolo seit vier bis fünf Jahren fast so hoch wie in Zürich.

Müssten auf der anderen Seite die hohen Zinsen in Brasilien nicht mehr Kapital anziehen?

Das geschieht ja auch. Andererseits drücken 14,25 Prozent beim Leitzins auch ein hohes Risiko aus. Und dieses Risiko schreckt vor Investitionen ab.

Staatspräsidentin Dilma Rousseff versprach, die Bürokratie abzubauen. Die Zahl der Ministerien soll um einen Viertel abgebaut werden. Helfen diese Massnahmen dem Staat?

Nein, das ist reine politische Propaganda. Schon von vornherein war es ja absurd, mit 39 Ministerien das Land zu führen. Die angekündigten Massnahmen sind politisches Marketing. Es ist auch ein Entgegenkommen an die Opposition, die damit drohte, im Kongress ein Gesetz zu verabschieden, welches die Zahl der Ministerien festlegt.

Aber die grosse Zahl an Ministerien ist auch ein Kitt der verschiedenen Koalitionspartner.

Rein theoretisch mag das stimmen. Allerdings sind die Koalitionspartner längst nicht mehr untereinander verkittet. Ich schätze, dass nur noch die Hälfte der 39 Minister loyal zu Rousseff steht. Die andere Hälfte ist längst zur Opposition abgewandert, obwohl sie zur Regierung gehört. Die politische Durchsetzungsfähigkeit ist abhandengekommen.

Neun Monate nach der Wahl sind laut Umfragen nur noch sieben Prozent der Bürger zufrieden mit der Regierung. Liegt das an den Korruptionsskandalen oder an der misslichen Wirtschaftslage?

Man kann die beiden Gründe nicht voneinander trennen. Die Skandale haben Anfang Jahr sicher auch zur Desillusionierung der 52 Prozent Wähler beigetragen, die für Dilma Rousseff gestimmt hatten. Diese spüren nun in den letzten Monaten, dass auch ihre Kaufkraft sinkt, weil die Inflation so hoch ist. Beides zusammen führt dazu, dass die früheren Rousseff-Wähler bei den Umfragen umgeschwenkt sind.

Im Gespräch gab Dilma Rousseff Irrtümer zu.
Autor: Alexander Busch NZZ-Korrespondent

Sie haben Rousseff vor Kurzem zu einem Interview getroffen. Wirkte die brasilianische Staatspräsidentin unter Druck?

Auf jeden Fall. Sie wirkte sehr fragil. Rousseff soll in den letzten Monaten 15 Kilogramm abgenommen haben. In der Öffentlichkeit versucht sie, die Bevölkerung aufzumuntern. Die wirtschaftliche Lage, so die offizielle Lesart, würde sich bald wieder bessern. Im Gespräch zeigte sie allerdings auch Schwäche und gab mir gegenüber Irrtümer zu.

Wird die Wirtschaftskrise die Lage der Mittelklasse gefährden?

Sollte die Krise noch sehr viel länger andauern, dann tritt auch der soziale Abstieg ein. Noch ist das nicht der Fall. Ich schätze, in Brasilien gibt es noch ein Jahr lang «Schonfrist». Wenn diese Frist vorbei ist – und sich nichts ändert – dann tritt der Abstieg ein.

Das Gespräch führte Matthias Kündig

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