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International «Die Menschen in Donezk haben resigniert»

Die Gefechte um Donezk nehmen an Härte zu: Innerhalb weniger Stunden sollen in der ostukrainischen Millionenstadt mindestens 34 Zivilisten getötet worden sein. Die Situation ist völlig verfahren, wie der frühere Russland-Korrespondent des «Spiegel», Christian Neef, im Interview darlegt.

SRF: Spüren Sie im Zentrum von Donezk, dass sich die Lage zuspitzt?

Christian Neef

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Seit 23 Jahren schreibt der 62-jährige Christian Neef für das deutsche Magazin «Spiegel» über Russland, die Ukraine und die anderen Republiken der ehemaligen Sowjetunion. Neef war 13 Jahre lang Korrespondent in Moskau. Derzeit ist er in Donezk.

Christian Neef: Etwa um 16.00 Uhr hat der Kampflärm wieder begonnen. Man hört Artillerie-Feuer am Rande der Stadt und Einschläge direkt in der Stadt. Ähnliches hat es früher höchstens in der Nacht gegeben. Unmittelbar in den Nachbarorten von Donezk wird gekämpft und zwar so heftig und so blutig wie seit langem nicht mehr. Das Neue an der aktuellen Lage ist: Obwohl die ukrainische Armee in der Überzahl ist, halten die Rebellen offenbar stand. Das können sie nur, weil sie immer neue Unterstützung erhalten.

Strom gibt es nur noch teilweise, Wasser gar nicht mehr und dazu der Raketenbeschuss: Wie erleben die Menschen den Alltag in Donezk?

Karte der Ukraine mit Kiew, Donezk und Lugansk eingezeichnet.
Legende: Donezk ist heftig umkämpft. SRF

Die Leute sind sehr resigniert. Im Zentrum sieht man kaum noch Menschen. Wenn man aber weiter hinausfährt in die Wohngebiete, existieren noch einige kleinere Märkte und dort sieht man auch Leute. Alles in allem müssen von den 1,1 Millionen Einwohnern schon noch ein paar Hunderttausend Menschen in der Stadt verblieben sein. Sie sitzen in ihren Kellern, Wohnungen oder auf ihren Höfen. Die Stadt selber wirkt völlig ausgestorben, die Geschäfte sind praktisch alle geschlossen.

Man merkt auch einen Stimmungswechsel bei den Menschen. Die Mehrheit hatte am 11. Mai beim Referendum für eine Unabhängigkeit gestimmt, doch von dieser Aufbruchsstimmung ist wenig geblieben. Die Leute solidarisieren sich nicht mit den Rebellen, die hier in der Stadt sind. Sie wollen, dass die Kämpfe endlich vorbei sind und wieder in Ruhe leben – wer auch immer künftig das Sagen hat in der Stadt. Man merkt dies auch, wenn man mit der Rebellenführung spricht. Diese beklagt sich, dass die Donezker sie nicht unterstützen würden. In der Tat ist es so, dass sich kaum Freiwillige bei den Separatisten melden.

Die Menschen wollen, dass die Kämpfe endlich vorbei sind und in Ruhe leben.

Was treibt die pro-russischen Kämpfer denn überhaupt noch an?

Ein grosser Teil des Personals der Rebellen-Regierung hat in den vergangenen Wochen gewechselt. Fast alle Führer, die meist aus Russland stammten, sind durch Einheimische, meist Militärs, ersetzt worden. Grund dafür könnte sein, dass man eine straffere Führung will, die militärisch alles beisammen hält und deshalb Profis der früheren ukrainischen oder sogar sowjetischen Armee nimmt. Es könnte aber auch bedeuten, dass sich Russland von den Rebellen etwas distanzieren will.

Die ukrainische Armee berichtet ständig von militärischen Erfolgen; trotzdem wird die sogenannte Befreiung von Donezk laufend vertagt. Was heisst das?

Diese Meldungen sind zum grossen Teil Wunschdenken. Vieles was vom Stab der sogenannten Antiterror-Operation verkündet wird, entspricht einfach nicht den Tatsachen. Wenn man hier in Donezk ist und die täglichen Berichte aus Kiew liest, dann merkt man, dass viele Details einfach nicht richtig sind. Tatsache ist, dass die Kämpfe in den letzten Tagen sehr blutig geworden und sehr viele Tote zu beklagen sind. Das Kriegsglück wechselt hier jede Stunde. Von einer unmittelbar bevorstehenden Einnahme von Donezk kann keine Rede sein.

In wenigen Tagen wollen sich die Präsidenten von Russland und der Ukraine, Putin und Poroschenko, treffen. Besteht auch nur der Hauch einer Chance, dass es dabei zu einer politischen Lösung kommt?

Audio
«Die Kämpfe sind sehr, sehr blutig geworden»
aus Echo der Zeit vom 20.08.2014. Bild: Reuters
abspielen. Laufzeit 6 Minuten 39 Sekunden.

Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie eine diplomatische Lösung aussehen sollte. Die Ukrainer haben drei Bedingungen gestellt: dicht machen der Grenze zu Russland, überwachen derselben durch die OSZE und Freilassung der Geiseln. Dies wurde von Russland und den Rebellen abgelehnt. Sie sagen, ein Waffenstillstand müsse bedingungslos vereinbart werden. Da fragt sich, was man überhaupt verhandeln kann, wenn sie nicht einmal bereit sind, die Grenze dichtzumachen, was ja eine legitime Forderung ist.

Andererseits wird Poroschenko gemerkt haben, dass es für seine Truppen militärisch nicht zum Besten steht und sich die Kämpfe noch sehr lange hinziehen könnten. Das aber wird die Ukraine nur schwer aushalten. Deshalb muss er versuchen, zu Putin Kontakt zu halten und gegen die Kriegstreiber um ihn herum etwas Front zu machen. Denn militärisch wird mit dieser Armee ein Sieg nicht so leicht zu machen sein.

Das Interview führte Ursula Hürzeler

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