SRF: Christoph Wanner, Sie sind zurzeit in der ostukrainischen Stadt Mariupol. Verlief die letzte Nacht ruhig?
Christoph Wanner: Soweit ich das beurteilen kann, ja. Wir befinden uns im Zentrum der Hafenstadt Mariupol. Was allerdings am Stadtrand oder in der Nähe der sogenannten Demarkationslinien passiert ist, können wir von hier aus nicht beurteilen. Das Wochenende insgesamt war nicht ruhig. Es gab Beschuss durch Raketenwerfer. Dabei ist mindestens eine Frau gestorben. Eine Tankstelle ist in Flammen aufgegangen. Auch in der Rebellenhochburg Donezk gab es angeblich wieder Gefechte. Die ukrainische Regierung sagt auch, dass die Feuerpause immer wieder verletzt worden sei. Aber von einem Bruch der Waffenruhe will noch niemand sprechen.
Wie viel bekommt man von diesen Beschüssen in Mariupol mit?
In Mariupol selbst ist es relativ ruhig. Die Menschen flanieren und sitzen in Cafés. Aber natürlich herrscht hier eine Spannung, weil niemand weiss, ob und wann der nächste Beschuss kommt. Die Menschen kennen die Bilder aus Donezk und Lugansk von zerstörten Stadtvierteln und von unzähligen toten Zivilisten. Wenn es hier wieder zu Kämpfen kommt, wissen die Leute, dass ihnen ein ähnliches Schicksal droht.
Die OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, und die Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini die zwischen den Kriegsparteien vermittelt hat, sind zuversichtlich, dass das Abkommen hält. Glauben das die Leute in Mariupol auch?
Nein. Ich glaube, die Menschen in Mariupol sind äusserst skeptisch. Viele haben mir gesagt, dass sie davon ausgehen, dass beide Seiten, also sowohl die Regierungstruppen als auch die Aufständischen, die Waffenruhe nutzen, um ihre Truppenkontingente aufzufrischen und für Nachschub zu sorgen. Sie glauben, dass wenn die Reihen wieder gefüllt sind, es zu neuen Kämpfen kommen wird.
Und wie gehen die Menschen in der Ostukraine generell mit dieser fragilen Situation um?
Natürlich ist die Angst gross, dass es zu weiteren Kämpfen kommt. Gerade auch weil Mariupol eine strategisch wichtige Stadt ist. Sie liegt auf der Landverbindung zwischen Russland und der von Russland annektierten Halbinsel Krim, die momentan nur per Wasser oder Luft erreicht werden kann. Es gibt dort grosse Versorgungsengpässe. Deswegen befürchten die Menschen hier, dass die Russen mithilfe der Rebellen versuchen könnten, einen Landkorridor zu schlagen. Mariupol liegt eben genau auf dieser Route zur Krim, die sozusagen die Lebensader für die Halbinsel darstellt.
Das Interview führte Urs Gilgen.