Der Alptraum in der Region Sindschar im Nordirak ist vorbei, die Terrormilizen des Islamischen Staates (IS) haben sich zurückgezogen. Zurück bleiben Ruinen und Flüchtlingslager. Die österreichische Buchautorin und Kriegsreporterin Petra Ramsauer hat eines dieser Lager besucht.
SRF News: Die meisten Jesiden sind ins Ausland geflüchtet. Wer ist zurückgeblieben?
Petra Ramsauer: Es gab sehr wenige, die im Land oder in ihrem Siedlungsgebiet bleiben konnten. Ungefähr 15‘000 Menschen sind bisher wieder zurück. Vor dem Überfall lebten in der Region Sindschar zwischen 350‘000 und 400‘000 Jesiden.
Weshalb sind so viele geflüchtet?
Die Fluchtbewegung in die Berge des Sindschar setzte beim Überfall der IS-Terroristen im August 2014 ein. Viele wussten nicht wohin, viele wurden getötet. Zurzeit ist die Rede von 7000 Opfern, doch es werden laufend noch Massengräber gefunden. Bis zu 5000 Frauen wurden verschleppt. Der Grossteil von ihnen ist weiter in den Händen des IS und wird missbraucht. Davon zeugen Bilder von tiefverschleierten Frauen in Ketten, die als Sklavinnen angeboten werden.
Sie sprachen mit vielen Frauen, die unendliches Leid erfahren haben. Wie gehen die Opfer damit um.
Man spricht von 1000 bis 2000 Frauen, die entkommen konnten oder freigekauft wurden. Es ist sehr schwierig für diese Frauen, die in der jahrtausendealten Kultur sehr geschlossen und konservativ lebten. Frauen, die aus der Sklaverei entlassen werden, gehen jetzt in die Tempel, um sich spirituell zu reinigen. Dann werden sie wieder in die Gesellschaft aufgenommen. Das ist eigentlich gar nicht so logisch, so grausam das auch klingen mag.
Viele Frauen sprechen nicht darüber, was ihnen geschehen ist, weil es ein grosses Tabu ist. Viele sind schwer traumatisiert. Sie fühlen sich zutiefst ausgegrenzt und schutzlos.
Die kurdische PKK rekrutiert Jesidinnen im Kampf gegen den IS. Empfinden die Frauen dies als Befreiung?
Das ist schwer zu sagen, weil wenige über das Erlebte zu sprechen bereit sind. Sie sagen aber, sie hätten sich freiwillig den Truppen angeschlossen. Nach dem Geschehen müssten sie sich wehren. Sie könnten niemandem mehr trauen und griffen deshalb selbst zu den Waffen.
Die wenigen, die über ihre Vergewaltigungen berichten, sprechen von Rache. Denn die Peiniger aus den Reihen des IS glauben, dass sie beim Tod durch die Hand einer Frau nicht ins Paradies kommen. Die Frauen sehen eine Chance, aus ihrer einstigen Wehrlosigkeit eine gefürchtete Waffe zu machen.
Die Wenigen, die über ihre Vergewaltigungen berichten, sprechen von Rache.
Diese Frauen haben so viel durchgemacht, dass das Gefühl, den Männern die Schmach eines würdelosen Todes zuzufügen, stärker ist als die Angst vor dem Kampf und vor dem Bruch mit ihrer Kultur. Denn viele Familien können nicht akzeptieren, dass die Frauen jetzt kämpfen.
Zwangsrekrutierungen die Kurden auch Jesidinnen, wie dies eine Syrerin in der «New York Times» berichtet?
Ich erhalte den Eindruck, dass freiwillig rekurtiert wird, auch wenn das ein dehnbarer Begriff ist. Doch welche Chancen haben diese jungen Frauen? Eine Frau, deren Familie vom IS getötet wurde, sagte mir kürzlich, sie habe niemanden mehr. Sie habe Angst, im Irak zu bleiben und ins Ausland fliehen könne sie auch nicht. Gerade Frauen ohne Famlien fühlen sich in die Enge gedrängt und schliessen sich – oberflächlich betrachtet – freiwillig der PKK oder anderen Milizen an.
Welche Rolle spielen die Frauentruppen bei der Rückeroberung von Mossul?
Das wird sich zeigen. Mossul ist kein klassisches Kurdengebiet im Nordirak. Die Stadt unterscheidet sich klar von anderen Städten wie etwa Kobane in Syrien, das ja von kurdischen Milizen zurückerobert wurde. In Kobane spielten die Frauen eine ganz wesentliche Rolle.
Das heisst, dass die PKK-Führung die Frauen auch als militärische Kraft sehr ernst nimmt?
Ja, Frauen sind ein ganz wichtiger Teil in den Verbänden. Sie werden gleichberechtigt mit Männern eingesetzt. Man geht davon aus, dass sie bei der Eroberung von Mossul und ganz besonders auch im syrischen Rakka eine sehr wichtige Rolle spielen werden.
Das Interview führte Isabelle Jacobi.