«Die UNO ist alles andere als perfekt», sagt Fredy Gsteiger, der als diplomatischer Korrespondent für Radio SRF seit Jahren die Arbeit der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen begleitet. «Aber letzten Endes», so Gsteiger, «ist sie alternativlos.» Die Vereinten Nationen seien das einzige Forum, in dem alle Staaten vertreten sind. «Und wenn man sagt, es braucht ein solches Forum, gibt es keinen besseren Ersatz.» Im Folgenden äussert er sich zu Kritikpunkten an der UNO, die in den vergangenen Jahren immer wieder zu hören waren. Einige teilt er, andere nicht.
Kritikpunkt: Der Sicherheitsrat mit seinen fünf mächtigen Vetostaaten ist überholt.
Fredy Gsteiger: «Das mächtigste Organ der UNO ist das, was – gemessen an den Erwartungen – am schlechtesten funktioniert. Der Sicherheitsrat ist im Wesentlichen für Krieg und Frieden zuständig und mindestens in den letzten Jahren hat die Zahl der Kriege auf der Welt zugenommen.
Dass der Rat in dieser Hinsicht so erfolglos ist, hängt mit seiner Zusammensetzung zusammen – vor allem natürlich mit jener der fünf Vetomächte, die seit 1945 unverändert ist. Heute einflussreiche Länder wie Indien, Brasilien, Deutschland oder Japan sind nicht vertreten, Frankreich und Grossbritannien hingegen schon. Und auch das Vetorecht an sich ist problematisch. Der Fall Syrien – aber längst nicht nur der – hat gezeigt, dass der Sicherheitsrat durch das Vetorecht blockiert ist. Gibt es Aussicht auf Reformen? Zumindest gibt es konkrete Forderungen – unter anderem von der Schweiz. Demnach sollen die Ständigen Mitglieder wenigstens in Fällen, in denen es um Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht, auf die Ausübung ihres Vetorechts verzichten.»
Kritikpunkt: Der Sicherheitsrat fokussiert zu stark auf einige wenige Themen.
«Einflussreiche Sicherheitsratsmitglieder haben es tatsächlich in der Hand, Diskussionen oder eine Einmischung in gewisse Themen zu verhindern. Ein ganz konkretes Beispiel ist Tibet. China verhindert systematisch, dass der Sicherheitsrat sich mit diesem Thema befasst. Und wenn er es irgendwann täte, würde China eine Resolution mit Sicherheit blockieren.
Auf der anderen Seite muss man aber auch sagen, dass sehr viele der grossen Konfliktthemen – nehmen wir den Nahost-Konflikt, Sri Lanka, Zentralafrika, Jemen oder die Ukraine – durchaus auch im Sicherheitsrat zur Sprache kommen. Es kommt dann aber eben nicht immer zu einer Lösung, wenn sich die Ständigen Mitglieder nicht einig sind.»
Kritikpunkt: UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon ist zu farblos.
«Die Kritik ist zu einem guten Teil unfair. Ich sage nicht, Ban Ki Moon sei ein extrem charismatischer oder durchsetzungsstarker Mensch. Aber bei jeder Wahl eines neuen Generalsekretärs stellt sich aufs Neue die Frage, ob es nun besser ein General oder ein Sekretär sein soll. Die einflussreichen Mitglieder tendieren ganz klar zur zweiten Variante. Und aufgrund dieses Anforderungsprofils werden die Kandidaten ausgewählt. Dieser Person hinterher vorzuwerfen, nicht visionär genug zu sein, ist nicht ganz redlich.
Ban Ki Moon hat zudem in seiner zweiten Amtsperiode – als er nicht mehr das Damoklesschwert der Wiederwahl über sich hatte – doch relativ deutlich seine Meinung geäussert. Seit Jahren treibt er das Thema Klimaschutz voran, arrangiert Gipfel und zwingt die Staaten, sich mit dem Thema zu befassen. Aber natürlich ist er nicht derjenige, der den Frieden in Syrien herbeiführen kann.»
Kritikpunkt: Die Auswahl eines neuen Generalsekretärs ist undurchsichtig.
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«Ein Vorwurf, der nicht von der Hand zu weisen ist. Die meisten Mitgliedsländer haben in dieser Frage eigentlich wenig zu sagen. Im Grunde kungelten die Vetomächte bisher hinter den Kulissen, bis sie eine Person fanden, auf die sich alle einigen konnten – das kann nur der kleinste gemeinsame Nenner sein. Der Vorschlag wurde dann der Generalversammlung unterbreitet, der nicht viel anderes übrigblieb, als ihn gutzuheissen.
Inzwischen gibt es an diesem Verfahren aber Kritik. Es gibt die Forderung, Kandidaturen wenigstens öffentlich zu machen, aber in dieser Hinsicht geht es nur in sehr kleinen Schritten voran. Hinzu kommt das ungeschriebene Gesetz, dass sich beim Amt des Generalsekretärs gewisse Ländergruppen abwechseln. Dieses Mal wären die Osteuropäer an der Reihe – eine schwierige Gruppe, da zu ihr neben Russland auch Nato-Staaten gehören. Kandidaten, die Russland genehm sind, dürften inakzeptabel sein für andere Osteuropäer und umgekehrt. Deshalb könnte es am Ende auch sein, dass es keinen osteuropäischen Kandidaten gibt.»
Kritikpunkt: Das Amt des UNO-Generalsekretärs ist seit Jahrzehnten mit Männern besetzt.
«Es gibt verschiedene Kampagenen, die sich nach acht Männern an der Spitze für eine Frau stark machen. Ban Ki Moon hat selber gesagt, bei seiner Nachfolge müssten auch die Frauen der Welt berücksichtigt werden. Es gibt also zum ersten Mal Druck, eine Frau zu wählen. Und wenn man sich umschaut, gebe es viele geeignete Frauen mit internationaler Erfahrung.»
Kritikpunkt: Die Generalversammlung ist ein zahnloser Tiger.
«Die Feststellung trifft zu, ich sehe sie aber nicht zu sehr als Kritik, denn die Generalversammlung wurde gar nie konzipert als entscheidungskräftiges Organ. Sie ist im Wesentlichen der grosse Debattierclub der UNO – und das soll sie auch sein. Im Grunde ist die Generalversammlung das Forum, wo sich die UNO als Weltgemeinschaft am meisten spiegelt. Nun kann man natürlich fragen, ob die Generalversammlung die richtigen Debatten führt? Zum Teil tut sie das wohl nicht. Aber wer fordert, die Generalversammlung müsste entschiedener auftreten, der verkennt ihre Aufgabe.»
Kritikpunkt: Die UNO kommt bei grundlegenden Reformen nicht voran.
«Für den Sicherheitsrat mag das zutreffen. Auf der anderen Seite gibt es innerhalb der UNO durchaus Bewegung. Wo neue Themen aufkommen, reagiert die UNO – sie ist nicht völlig erstarrt. In den vergangenen Jahren wurden so beispielsweise die Frauenorganisationen UN Women und das UNO-Büro für nachhaltige Energie geschaffen. Kommendes Jahr soll eine UNO-Organisation zur Kontrolle des Waffenhandels in Genf ihre Arbeit aufnehmen. Zudem sind viele Organisationen der UNO in den vergangenen Jahren wichtiger und umfangreicher geworden – die Arbeit der Welthungerhilfe etwa oder die von Ocha, dem Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten.»
Kritikpunkt: Der UNO fehlt der Rückhalt in den Mitgliedsstaaten.
«Ich glaube nicht, dass die UNO weltweit an Bedeutung verloren hat. Im Gegenteil: In einigen Bereichen – Entwicklungspolitik, Nothilfe oder bei den Menschenrechten – ist die UNO wichtiger geworden. Vergessen darf man vielleicht auch nicht: Kritik an der UNO gibt es vor allem im Westen, wo man weniger auf sie angewiesen ist. In armen Ländern ist ihr Image viel besser. Dort würde es vielen Menschen ohne das World Food Programme oder Unicef viel schlechter gehen. Die Kritik an der UNO istdeshalb wohl auch ein westliches Phänomen. Was stimmt, ist das die Unterstützung der UNO nicht immer in dem Masse Schritt hält wie man ihr neue Aufgaben aufbürdet. Nehmen wir das Beispiel Blauhelme: Seit Jahren steigt der Bedarf, aber viele Länder sind nicht bereit, gut ausgebildete Blauhelme mit der nötigen Ausrüstung zur Verfügung zu stellen. Oft sind es dann Drittweltstaaten, die Personal schicken. Westliche Länder wie Deutschland, aber auch die Schweiz oder Holland, halten sich zurück.»