Egon Bahr hat die Teilung Deutschlands und ihren Ursprung aus nächster Nähe erlebt: Mit Anfang zwanzig prägen zwei Jahre Krieg sein Leben. Später sagt er rückblickend in einem Gespräch mit dem Schweizer Fernsehen: «Ich wollte überleben. Und als ich am Ende des Krieges Berlin überlebt hatte, und auch den Einmarsch der Russen überlebt hatte, war mein Gefühl, ‹du wirst nach deinen Möglichkeiten und Fähigkeiten versuchen, das deine beitzuragen, damit eine solche Scheisse nie wieder passiert›».
Es gibt keine Stabilität in Europa ohne die Beteiligung und Einbindung Russlands.
Kennedys starke Worte
Nach dem Krieg beobachtet Bahr das geteilte Deutschland einige Jahre als Journalist für Zeitungen und Radio. Als die Deutsche Demokratische Republik Berlin mit einer Mauer teilt, ist Bahr Sprecher von Willy Brandt, dem damaligen Bürgermeister Westberlins. Die entscheidende Phase – die Annäherung zwischen Westdeutschland auf der einen und der Sowjetunion und der DDR auf der anderen Seite – prägt er unter Kanzler Willy Brandt massgeblich mit.
Den Ursprung dieser Politik datiert Bahr später auf den 26. Juni 1963. Es ist dies der Tag, als US-Präsident John F. Kennedy Berlin besucht und dort ruft: «Ich bin ein Berliner». Nach der Rede Kennedys sei klar gewesen: Wer Berlin angreift, greift Kennedy an, den mächtigsten Mann der Welt. «Es hat seither keine Berlin-Krise mehr gegeben», sagt Bahr.
Für noch wichtiger hält Bahr eine zweite Rede Kennedys am gleichen Tag, einige Stunden später an der Freien Universität Berlin. Dort habe Kennedy gesagt, der Westen müsse mit der Sowjetunion verlässliche Beziehungen der Kooperation erreichen, damit es in Europa Stabilität gebe. Die Sowjetunion einbinden bleibt der Kerngedanke von Bahrs Ostpolitik.
Wegbereiter der deutschen Einheit
Der «Wandel durch Annäherung» ist ein Bruch mit der bis dahin unbestrittenen «Politik der Stärke» gegenüber Sowjetunion und Ostblock. Bahrs Politik führt schliesslich zu den Verträgen der Bundesrepublik mit der Sowjetunion und der DDR. Für viele Historiker sind sie wichtige Bausteine für die Perestroika von Michail Grobatschow.
Nach dem Abschied aus der deutschen Regierung bleibt Egon Bahr für die Sozialdemokraten Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Bei der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 tritt er nicht mehr an. Fortan kommentiert er als aufmerksamer Beobachter die Entwicklungen im Verhältnis zwischen Ost und West.
Russland um jeden Preis einbinden
Dabei bleibt er in seinen scharfen Analysen seinem Credo immer treu: «Es gibt keine Stabilität in Europa ohne die Beteiligung und Einbindung Russlands. Ich weiss genau, dass Russland nicht so schwach bleibt, wie es im Augenblick ist. Derzeit können wir alles tun – Russland kann uns daran nicht hindern, es ist zu schwach. Aber ich warne davor, ein stolzes Volk zu demütigen», sagte Bahr 1999 in einem Gespräch mit dem Schweizer Radio. Ganze 15 Jahre vor Ausbruch der aktuellen Krise in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen.