Martin Roth, deutscher Direktor eines Londoner Museums, erfährt die Tage nach dem Brexit-Beschluss als Zerreissprobe. SRF News hat mit ihm über Grossbritannien gesprochen – ein Land, das ihm zufolge globale Ambitionen, aber auch einige gefährlich engstirnige Politiker hat.
SRF News: Herr Roth, wenn Sie den britischen Beschluss zum Austritt in einem Geschichtsbuch beschreiben müssten: Was ist am Donnerstag eigentlich passiert?
Martin Roth: Eine schwierige Frage. Es haben wohl mehrere Faktoren eine Rolle gespielt. Zunächst waren die meisten britischen Politiker seit Margareth Thatcher europaskeptisch bis europaphob und haben seit dem EU-Beitritt unter Tony Blair zwischen Enttäuschung und Nörgeln geschwankt. Ferner haben die Briten eine ganz eigene Beziehung zur Aussenwelt. Als einstige Seefahrer- und Kolonialnation waren sie fast überall in der Welt präsent, in Nordamerika, Indien, Afrika, Australien, Asien. Da ist ihnen Europa eher im Weg. Warum zuerst nach Brüssel gehen, wenn man direkt nach Sydney kann?
Schliesslich spielen beim Brexit, auch wenn das absurd klingen mag, viele persönliche Dinge eine Rolle. Boris Johnson und David Cameron sind seit der Uni Rivalen. Johnson wollte Cameron unbedingt verdrängen, Cameron hat mit der In-Out-Frage schlecht reagiert. Und ein ganz persönlicher Zwist hat nun ein ganzes Land in Schwierigkeiten gebracht.
Die rechtspopulistische Partei Ukip erklärt sich den Brexit mit der Migrationsfrage. Hat die keine Rolle gespielt?
Ich habe England nie als fremdenfeindliches Land empfunden. Ganz im Gegenteil. Stellen Sie sich vor: In meinem Museum arbeiten Menschen aus 28 Nationen. Wo ist dies sonst der Fall? Und wenn die Ukip die Migrationsfrage als Motiv für den Brexit bemüht, ist das falsch und grausam. Das ist Öl in ein Feuer gegossen, dass die Rechtsnationalisten zu löschen behaupten, in Wahrheit aber selbst entfachen.
Nur: Mit diesem Problem steht Grossbritannien nicht allein da. Ähnliches sehen wir in Frankreich mit dem Front National, in Deutschland mit Pegida und AfD, in Italien mit der Bewegung um Beppe Grillo, in Polen, Niederlande und Ungarn. Wenn wir nicht heftig dagegen arbeiten, bahnt sich ein verheerender Nationalsozialismus 2.0 an.
Die Briten haben eine administrative mit einer lebenswichtigen Frage verwechselt.
In den sozialen Medien ist jetzt von Reue die Rede. Haben die Menschen kopflos abgestimmt?
Ich kann mir schon vorstellen, dass es für die einen oder anderen ein böses Erwachen gibt. Manch einer hat wohl der politischen Elite einen Schuss vor den Bug setzen wollen. Was mir dabei wichtig erscheint: Anders als die Schweizer sind Briten nicht auf Volksabstimmungen eingestellt. Ein Schweizer stimmt seit Jahrhunderten ab und kann einschätzen, ob eine Frage lebenswichtig oder nur administrativ ist. Die Briten haben demgegenüber eine administrative mit einer lebenswichtigen Frage verwechselt.
Sie scheinen tief getroffen vom Brexit-Beschluss. Was kann denn Europa den Ländern bieten, was sie nicht selbst zu erreichen imstande sind?
Die Europäische Union hat über 71 Jahre Frieden beschert. Als Deutscher habe ich hier aber vielleicht eine andere Sicht als ein Brite. Ich bin in einem Land aufgewachsen, in dem ich nicht aufwachsen wollte, deutsche Nationalsozialisten haben im Zweiten Weltkrieg Millionen von Menschen umgebracht. Spätestens seit der deutsch-französischen Zusammenarbeit in den 1960er-Jahren ist Europa meine Identität. Sie aufgeben zu müssen, wäre schrecklich.
Europa ist meine Identität. Sie aufgeben zu müssen, wäre schrecklich.
Hat die Europäische Gemeinschaft denn nur Gutes und keine Fehler gemacht?
Sie hat grosse Fehler gemacht. So hat es beispielsweise nach 1989 keine systematische demokratische Erziehung in den ehemaligen kommunistischen Ländern gegeben. Anstatt den Brüdern und Schwestern im Osten zu zeigen, was demokratische Werte sind, hat man bloss den Markt ausgenutzt. Das Nach-Osten-Wachsen – das auch aus machtpolitischen Überlegungen gegenüber Russland geschah – ist sicher zu schnell gegangen. Und nun haben wir eine Situation in Polen und Ungarn, die alles andere als demokratisch ist.
Auch kann man sich überlegen, ob die Schritte der Integration über das Ziel hinausgeschossen sind. Um mit Kurt Hans Biedenkopf, dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Sachsen, zu sprechen: Nach der Handelsunion ist die Währungsunion ein Luxusschiff ohne Rettungsequipment.
Ist Europa also Geschichte?
Die entscheidende Frage ist nicht, ob Europa zerfällt oder nicht, sondern warum es zerfallen könnte. Falls Europa an ein Ende kommt, dann nicht wegen der einzelnen Entscheide von Nationalstaaten. Sondern weil es ein anti-islamisches, anti-aufklärerisches und anti-religiöses Europa gibt, das nichts mehr mit europäischen Werten zu tun hat. Wegen des Nationalsozialismus 2.0, wie ich schon gesagt habe.
Das Gespräch führte Christine Spiess