Unter dem Motto «Nuit Debout» («aufrecht durch die Nacht») demonstrieren tausende Franzosen seit Ende März Nacht für Nacht auf öffentlichen Plätzen in diversen Städten des Landes.
Die Bewegung entstand auf der prestigeträchtigen Pariser Place de la République im Zusammenhang mit den Protesten gegen die Arbeitsmarktreform der Regierung. Inzwischen geht es aber auch um andere Themen. Worauf zielt der Protest ab? Antworten darauf weiss SRF-Korrespondent Charles Liebherr in Paris.
SRF News: Was genau wollen die nächtlichen Demonstranten in den französischen Städten erreichen?
Charles Liebherr: Zu Beginn der Proteste war der Rückzug der Arbeitsrechtsreform die einzige und klarste Forderung. Dann kamen spezifische Forderungen von Jugendlichen und Studenten hinzu, etwa ein besserer Zugang zu Stipendien. Inzwischen ist daraus ein reicher Katalog an politischen Forderungen geworden, die von der Überwindung des Kapitalismus bis zu mehr Bio-Landwirtschaft reichen. Die Demonstranten wünschen sich eine andere Politik in Frankreich.
Begonnen hat es in der Paris, auf der Place de la République, mittlerweile haben Demonstranten in dutzenden Städten ganz Frankreichs nachgezogen. Wer genau geht da auf die Strasse?
Ich habe gestern Abend auf der Place de la République viele junge, wachsame Menschen gesehen, aber auch viele ältere blieben bis nach Mitternacht dort. Dabei habe ich mit einem Geschichtslehrer, einem pensionierten Lokführer, Angestellten oder Gewerblern gesprochen. Es waren Menschen mit unterschiedlichsten Biografien – und einer gemeinsamen Enttäuschung: Sie hatten 2012 in der Mehrheit einen linken Präsidenten und eine linke Parlamentsmehrheit gewählt. Doch jetzt sind sie enttäuscht, weil diese ihrer Ansicht nach keine sozialistische Politik machen.
Die Demonstranten wünschen sich eine andere Politik in Frankreich.
Das erinnert an die «Occupy»-Bewegung, die 2011 von den USA ausgehend auch nach Europa überschwappte. Holen die jungen Leute in Frankreich jetzt nach, was in anderen Ländern bereits vor fünf Jahren stattgefunden hat?
Das glaube ich nicht. Es gab damals auch in Frankreich Ableger der «Occuppy»-Bewegung. «Nuit Debout» versteht sich eher als eine Mobilisierung der Zivilbevölkerung gegenüber den etablierten Parteien, die für sie eine elitäre Kaste darstellen. Es handelt sich um eine Bürgerbewegung vergleichbar mit «Podemos» in Spanien, die sich für eine neue Form der Politik von unten einsetzt. Sie will mit der bisherigen Logik des Politisierens brechen und neue Wege suchen, sich gesellschaftspolitisch zu engagieren und zu organisieren.
Was hält denn die französische Bevölkerung von diesen Protesten?
Zu «Nuit Debout» kommen jeden Abend mehrere Tausend Menschen allein auf die Place de la République, zudem gibt es Ableger im ganzen Land. Das zeigt, dass die Bewegung wach bleibt. Andererseits ist der Zulauf beschränkt, es gibt keine breite politische Basis für die Bewegung. Zwar bekunden einige linke Parteien und sogar die Sozialisten Sympathien für sie, doch mehr wird es kaum. Weil es nicht nur um die Arbeitsgesetzes-Revision geht, ist «Nuit Debout» keine homogene Bewegung mit einem Ziel, hinter dem alle stehen können.
Was glauben Sie: Werden diese Nacht-Aktionen bald aufhören oder formiert sich da etwas Längerfristiges?
Der Atem ist sicher lang, weil die Enttäuschung im linken politischen Lager so gross ist. Allerdings trifft das wohl vor allem auf den harten Kern der Bewegung zu. Ich bin skeptisch, ob sie weiteren Zulauf gewinnen kann. Am 3. Mai soll die Beratung des Arbeitsgesetzes im Parlament beginnen – kurz nach dem Tag der Arbeit, an dem sich Zehntausende oder sogar Millionen auf die Strasse begeben werden. Erst dann wird man abschätzen können, wie nachhaltig die «Nuit Debout»-Protestbewegung in der Bevölkerung verankert ist.
Das Interview führte Susanne Schmugge.