SRF News: Die EU hat an ihrem Sondergipfel beschlossen, der UNO eine Milliarde Euro zur Versorgung der Flüchtlinge in den Nachbarländer Syriens zur Verfügung zu stellen. Ein gutes Ergebnis?
Kilian Kleinschmidt: Ich verstehe nicht, weshalb man sich nur auf eine Milliarde Euro einigte. Es ist bekannt, dass alleine für die Weiterführung der wichtigsten Aktivitäten ein Finanzloch von drei Milliarden Dollar besteht. Will man mit der Flüchtlingssituation klar kommen, darf man sich nicht zieren: Es braucht nicht nur humanitäre, sondern auch strukturelle Hilfe. Das haben wir bereits vor einem Jahr deutlich gemacht, als Jordanien die Grenze so gut wie dicht machte: Bereits damals fehlten finanzielle Mittel für die Wasser- und Energieversorgung, die Entsorgung des zusätzlich entstandenen Mülls und um den zusehends knappen Wohnraum auszuweiten.
Wie begründen Sie die aktuell hohe Anzahl syrischer Flüchtlinge, welche die Lager in den Anrainerstaaten Syriens verlassen und sich auf den Weg in Richtung Europa machen?
Die schlechte Infrastruktur und Versorgung in den Lagern sind nicht die einzigen Gründe. Man vergisst allzu oft, dass die Mehrheit der Flüchtlinge sich gar nicht in diesen Lagern aufhält, sondern irgendwie versucht, sich in Jordanien, im Libanon, der Türkei oder im Norden des Iraks durchzuschlagen.
Fünf Jahre Krieg haben in beiden Situationen, ob in einem Lager oder ausserhalb, zu einer Aussichtslosigkeit geführt. Abgesehen von den Siedlungsgebieten der Kurden haben die Flüchtlinge in diesen Ländern kein Recht auf Arbeit. Dies ist insbesondere für junge Menschen fatal: Kinder landen in der illegalen Arbeit, Mädchen werden früher verheiratet, Jugendliche laufen Gefahr, sich zu radikalisieren und beispielsweise dem Islamischen Staat (IS) anzuschliessen.
Zehntausende von Syrer mussten ihr Studium abbrechen und warten nun schon jahrelang darauf, dieses weiterführen zu können. Berücksichtigt man diese Probleme, ist eine Milliarde Euro an zusätzlicher Hilfe ein Tropfen auf den heissen Stein.
Wie muss man sich den Alltag in einem Flüchtlingslager wie Zaatari vorstellen?
In Jordanien geht man davon aus, dass sich rund 100‘000 Menschen in den Flüchtlingslager aufhalten: 80‘000 in Zaatari, 20‘000 in Azraq. Weitere rund 500‘000 Flüchtlinge leben ausserhalb der Lager. Zaatari ist de facto eine Stadt geworden: Es gibt eine Marktstrasse mit rund 3000 Geschäften, Wohncontainer wurden zu Häusern umgebaut, auch werden nun Wasserleitungen gebaut. Doch wie muss man sich den Alltag in einem solchen Lager vorstellen? Stinklangweilig. Insbesondere die jungen Menschen können früher oder später nur feststellen, dass sich an einem solchen Ort keine Chancen auf ein besseres Leben ergeben.
Für genügend Toiletten und eine funktionierende Wasserversorgung zu sorgen oder kurz, das Überleben der Flüchtlinge in einem solchen Lager zu sichern, ist schön und recht – eine Perspektive erhalten die Menschen dadurch jedoch nicht.
Sie waren in verschiedenen Flüchtlingslager tätig, haben das Lager Zaatari bis im Oktober 2014 geleitet: Fühlten sich von den örtlichen Behörden in ihrer Tätigkeit als Entwicklungshelfer jeweils unterstützt?
In Jordanien war die Zusammenarbeit weitgehend sehr gut. Doch, ob Jordanien, Kenia oder Pakistan – allen betroffenen Staaten bereitet insbesondere eine Frage Bauchschmerzen: Wie lange werden die Flüchtlinge bleiben und warum sollen wir nachhaltige Lager und Siedlungen entwickeln wenn sie sowieso bald wieder gehen? Der Irrglaube ist, dass eine Ausgrenzung der Flüchtlinge eine schnellere Rückkehr herbeiführt.
Umso mehr wäre es meiner Meinung nach wichtig, dass die Flüchtlinge vor Ort nicht nur als Zwischenaufenthalter, sondern als Chance für die Wirtschaft und die Gesellschaft betrachtet werden, dass sie im Aufbau neuer Industrien von Nutzen sein könnten. Deutschland hat diesbezüglich zuletzt den richtigen Kurs eingeschlagen: Das Motto lautet, «Wir schaffen Arbeitsplätze». Man versucht, die Flüchtlinge nicht nur als Belastung, sondern als Chance anzusehen.
Wie sieht Ihrer Meinung nach eine effiziente Hilfe seitens der europäischen Staaten ausserhalb der EU-Grenze aus?
Ich würde von einer globalen Verantwortung sprechen. Erstens muss die humanitäre Hilfe sichergestellt werden. Dazu gehört auch die humanitäre «Evakuierung»: Schutzbedürftige müssen aus den Regionen herausgeholt werden.
Zweitens gilt es, die legalen Ausreisemöglichkeiten auszubauen: Es braucht Visa, damit ein Studium, eine Weiterbildung oder die Arbeitsvermittlung möglich wird. Gerade da sollte die globale Dimension nicht ausser Acht gelassen werden: Es gibt beispielsweise ein Projekt, syrische Studenten an Universitäten in Mexiko und Ecuador unterzubringen.
Drittens braucht es so etwas wie einen Marshallplan für den Nahen Osten: Regionale Investitions- und Finanzierungspakete, um wirtschaftliche Perspektiven zu schaffen. Das heisst nicht, Almosen zu verschenken: Werden diese Investitionen richtig getätigt, so kann insbesondere Europa davon profitieren. Für jeden Flüchtling, der letztlich arbeitet, zahlt sich die Hilfe mehrfach aus. Ein Finanzierungsplan von einem Volumen, wie es Griechenland zugesprochen wurde, wäre auch für den Nahen Osten und Nordafrika angebracht.
Sind die internationalen Organisationen dazu in der Lage, einen Entwicklungsplan von einer solch grossen Tragweite und mit einem solch hohen finanziellen Volumen wirkungsvoll umzusetzen?
Das UNHCR und auch viele NGOs sind in erster Linie für die humanitäre Hilfe von Bedeutung. Strukturelle Hilfe muss zwischen den zuständigen Behörden aufgebaut werden. Alles was mit Arbeit und Ausbildung zu tun hat, bedarf einer professionellen Koordination. Ein Beispiel sind Partnerschaften zwischen Städten, in denen ein Projekt von Amtskollege zu Amtskollege gesteuert wird. Zudem spielt die Wirtschaft eine wichtige Rolle: sie muss risikobereiter werden.
Das Gespräch führte Emanuel Gyger.