SRF News: Kann man nun sagen, dass nach dem Putsch die Repression in der Türkei eine ganz neue Dimension erreicht hat?
Iren Meier: Das neue und beunruhigende ist, dass es nun wirklich den Rechtsstaat ganz direkt und im Zentrum trifft. Das Verfassungsgericht ist ein Grundpfeiler des Rechtsstaates. Es garantiert eine unabhängige Justiz und garantiert die Rechte, die in der Verfassung stehen. Präsident Erdogan hat in der letzten Zeit mehrfach gesagt, er halte gar nichts von diesem hohen Gericht und seinen Urteilen. Tatsächlich war das Verfassungsgericht die einzige einflussreiche Institution, die umstrittene Entscheide von Erdogan oder von ihm unabhängige Richter aufhob, wie zum Beispiel eine Gefängnisstrafe gegen den unabhängigen Journalisten Can Dündar oder das Twitter-Verbot, das Erdogan erliess. Generell muss man sagen, die Säuberungskampagne gegen die Justiz ist schon seit langem im Gange. Massenentlassungen von Richtern sind nichts neues, aber Erdogan macht jetzt ganz klar, dass er wirklich das Justizsystem kontrollieren will.
Nach Unruhen geht es in der Türkei traditionellerweise jeweils relativ schnell bis man die vermeintlichen Schuldigen gefunden hat. Können denn die 6000 Festgenommenen überhaupt mit einem fairen Prozess rechnen?
Das kann man heute nicht sagen. Es gibt in der Türkei immer noch mutige und ihrem Ethos verpflichtete Richter, aber die werden wohl kaum eingesetzt in Prozessen gegen Angeklagte im Zusammenhang mit diesem Putschversuch. Dazu kommt, dass Präsident Erdogan und seine Minister seit gestern öffentlich erwägen, die Todesstrafe wieder einzuführen. Der Präsident wiederholt auch immer wieder, die Putschisten werden einen sehr hohen Preis bezahlen. Das alles sind nicht gute Zeichen.
Erdogan macht jetzt ganz klar, dass er wirklich das Justizsystem kontrollieren will.
Ins Visier genommen hat Präsident Erdogan auch seinen Gegenspieler Fethullah Gülen. Was macht ihn denn so sicher, dass Gülen der Drahtzieher war?
Man kann sagen, Fethullah Gülen ist für Präsident Erdogan zu einer Art Obsession geworden. Hinter allem, was geschieht, verdächtigt Erdogan Gülen den islamischen Prediger, der lange Jahre sein engster Verbündeter war. Er machte ihn zum Beispiel verantwortlich für die Aufdeckung des riesigen Korruptionsskandals 2013. Damals fanden Ermittlungen im Umfeld von Erdogan statt. Erdogan behauptet seit langem, Gülen wolle ihn stürzen und nun sagt er, der gestrige Putschversuch beweise das. Gülen selber bestreitet das vehement. Seine Bewegung hat sich Gewaltlosigkeit und demokratische Werte auf die Fahne geschrieben. Für Erdogan ist es ein grosses Problem, dass in vielen Institutionen – in der Polizei, im Geheimdienst, in der Justiz – Gülen-Anhänger oder –Sympathisanten sitzen. Diese will er loswerden. Wenn er von Säuberungen spricht, dann meint er vor allem diese.
Man spürt sehr deutlich die Sorge, dass nun der erstarkte Präsident Erdogan den Rechtsstaat aushöhlen könnte und noch repressiver regieren wird.
Gülen lebt ja nicht in der Türkei, er ist in den USA im Exil. Erdogan hat die USA nun aufgefordert, Gülen an die Türkei auszuliefern. Werden die Amerikaner diesem Wunsch nachkommen?
Es fällt auf, wie kühl und reserviert die Amerikaner reagieren. Aussenminister Kerry sagte, wir werden das allfällige Auslieferungsbegehren prüfen. Generell kann man über die internationalen Reaktionen auf diesen Putschversuch in der Türkei sagen, dass viele Politiker erleichtert sind, dass der Versuch gescheitert ist. Aber man spürt sehr deutlich die Sorge, dass nun der erstarkte Präsident Erdogan den Rechtsstaat aushöhlen könnte und noch repressiver regieren wird.
Das Gespräch führte Miriam Knecht.