SRF News: Ist das eine Kehrtwende in der türkischen Aussenpolitik, wie manche Kommentatoren meinen?
Dilek Zaptcioglu: Das ist in der Tat so. In den vergangenen fünf, sechs Jahren hat Erdogan gegen Israel und Russland gewettert und massive Gegenpropaganda betrieben. Insofern sind diese Versöhnungsakte tatsächlich sehr unerwartet gekommen.
Sehen wir uns die Versöhnungen genauer an: Zuerst Russland: Vergangenen Dezember schloss Erdogan noch kategorisch aus, sich bei Moskau für den Abschuss des russischen Kampfjets zu entschuldigen, was motivierte ihn nun, das doch zu tun?
Dafür gibt es meiner Meinung nach zwei wichtige Gründe. Der erste ist das Scheitern von Erdogans Syrien-Politik. Er hat erkannt, dass das Assad-Regime mit Moskaus Unterstützung die Aufständischen und islamistischen Kämpfer weit zurückdrängen kann. Die Türkei ist nicht einmarschiert – sie hat dafür keine internationale Erlaubnis. Auch die türkische Armee ist nicht gewillt, in Syrien zu intervenieren. Der zweite Grund für Erdogans Versöhnungspolitik ist, dass der türkische Handel mit Russland und der Tourismus eingebrochen sind. Die Tourismusindustrie weint und wurde tagtäglich bei Erdogan vorstellig. Doch die Wirtschaft allgemein – etwa die Lebensmittelexporte nach Russland – wurde geschädigt. Für Millionen Türken hatte das Zerwürfnis wirtschaftliche Folgen. Insofern war Erdogan zum Schluss gezwungen, eine Versöhnung mit Russland zu erreichen.
Untersucht die türkische Regierung den Abschuss auch seriös?
Die Untersuchungen sind schon weitgehend abgeschlossen. Die türkische Regierung behauptet, 17 Sekunden wäre ihr Luftraum von den Kampfjets ohne Erlaubnis überflogen worden. Was lächerlich ist. Die Türkei wollte gegenüber Russland das Zeichen setzen, es in Syrien nicht zu weit zu treiben. Russland wollte darauf nicht hören. Die Türkei war demgegenüber machtlos. Das Ganze ist also nichts anderes als die Vorführung der Machtlosigkeit der Türkei und Erdogans Politik – deswegen die erzwungene Kehrtwende gegenüber dem Kreml.
Erdogan wird seinen islamistischen Kurs nicht aufgeben und unberechenbar bleiben.
Der Streit von Israel war etwas anders geartet: Da ging es um eine pro-palästinensische Protest-Flotte, die nach Gaza übersetzen wollte. Die israelische Armee stoppte das Schiff und tötete zehn türkische Aktivisten, worauf Ankara die diplomatischen Beziehungen einfror. Das war vor sechs Jahren. Ab wann suchten die beiden Länder den Kompromiss – wohl nicht erst letzte Woche?
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Wie zu hören ist, dauerten die Gespräche in Rom schon vier Monate an. Zunächst auf Ebene der Aussenministerien, zum Schluss auf der Ebene Aussenminister selbst. Sie unterschrieben dann ein Abkommen. Was sehr interessant ist. Denn Staatspräsident Erdogan und seine Partei, die AKP, schüren den Antisemitismus in der Türkei. Erdogan hat immer Kapital daraus geschlagen, Israel zu brüskieren und zurechtzuweisen. Dieses Abkommen ärgert die Islamisten in der Türkei. Es zeigt aber auch, dass die Regierung Washingtons Wünschen gegenüber nicht Nein sagen konnte. Denn die Amerikaner sollen Ankara regelrecht dazu gezwungen haben, sich mit Israel zu versöhnen.
Hat die Türkei denn auch eigene Interessen an diesem Schulterschluss mit Israel, ausser Washington zufrieden zu stellen?
Erdogans strategisches Ziel wäre meiner Meinung nach gewesen, die Beziehungen zu Israel zu kappen und eine Islamische Union, die ihm ja nach dem Vorbild der EU vorschwebt, zu bilden. Das ist ihm nicht gelungen.
Präsident Erdogan zeigt also seine pragmatische Seite, gegenüber Israel und Russland. Aber wie berechenbar ist er als Partner?
Er ist nicht berechenbar. Er will viele Seiten zufriedenstellen – seine arabischen Freunde, jetzt ist er gezwungen, sich mit Moskau zu arrangieren, er hat seine islamistische Basis. Auf der anderen Seite steht natürlich Washington als grosse Wirtschaftsmacht und Rüstungshilfe. Insofern jongliert er zwischen allen Seiten. Schlussendlich wird er seinen islamistischen Kurs jedoch nicht aufgeben und unberechenbar bleiben.
Das Gespräch führte Isabelle Jacobi.