SRF: Die OSZE-Beobachtermission bestätigte am Donnerstagabend verstärkte militärische Aktivitäten nahe der Stadt Mariupol. Christof Franzen, Sie sind vor Ort. Wie ist die aktuelle Lage?
Christof Franzen: Die Lage in der Stadt war in der Nacht relativ ruhig. Artilleriebeschuss gab es bis in den Donnerstagabend hinein ungefähr zehn bis 20 Kilometer vor der Stadt.
Wie stark sind die ukrainischen Kräfte dort?
Ukrainische Militärbeobachter sagen, dass in den letzten Tagen hier ziemlich aufgerüstet wurde. Fährt man in Richtung Frontlinie, trifft man auf immer neue Panzersperren, Gräben werden angelegt. Das grosse Problem ist die Bewaffnung und die Ausrüstung. Angehörige von freiwilligen Bataillons sagen, sie hätten praktisch nichts, um sich gegen die schwere russische Artillerie zu wehren, die nun in den Händen der pro-Russischen Separatisten ist.
Noch wird ausserhalb der Stadt gekämpft. Wie verhält sich die Bevölkerung in Mariupol angesichts eines möglichen Angriffs?
Bereits haben Tausende die Stadt verlassen. Im Zentrum ist weniger los als sonst. Allerdings kann man nicht von einem Massenexodus sprechen. Die Menschen versuchen grundsätzlich, einen normalen Alltag zu führen. Sie gehen zur Arbeit, die Schulen und Universitäten haben anfangs September wieder geöffnet. Aber die Einwohner erzählen auch, dass sie ihre Koffer für alle Fälle gepackt hätten. Sie haben ein Notfallszenario. Offiziell gibt es einen Evakuierungsplan, der bei einem möglichen Angriff auf die Stadt zur Anwendung käme.
Wie hat sich diese Unsicherheit in der Stadt in den letzten Tagen auf die Bevölkerung ausgewirkt? Ist die Stimmung eher pro-russisch oder pro-ukrainisch?
Die grosse Mehrheit der Bevölkerung will einfach, dass die Kämpfe aufhören. Die Menschen im ganzen Donezbecken sind müde. Ihr einziger Wunsch ist es, in Ruhe gelassen zu werden und wieder normal leben zu können. Es scheint mir, dass die Unterstützung einer pro-russischen Lösung in den letzten Wochen eher abgenommen hat, weil die Menschen sehen, was nun in Donezk und Lugansk passiert.
Das Gespräch führte Tina Herren.