Vier Jahre nach dem Ausbruch des Syrienkriegs ist die humanitäre Bilanz erschütternd: 220'000 Tote, 3,5 Millionen Flüchtlinge, 6 Millionen Vertriebene. Doch in den meisten Ländern versuche man, das Flüchtlingsdrama auszublenden, sagt Kenneth Roth, der Chef von Human Rights Watch.
Sobald Sicherheitsprobleme die weltpolitische Agenda beherrschten – Krieg, Terrorismus – verdrängten Regierungen Menschenrechtsfragen. Als handle es sich dabei um Schönwetterthemen.
Roth war eben in Jordanien und Libanon. Je rund eine Million Syrer seien in die Nachbarländer Syriens, in den Libanon, nach Jordanien und in die Türkei geflüchtet. Diese drohten nun, die Grenzen für Flüchtlinge zu schliessen. Immer wieder habe man ihn dort gefragt: Was solle man tun?
«Der Westen zahlt zu wenig, nehme aber selber kaum Flüchtlinge auf», sei ihm immer wieder gesagt worden: «Wir nehmen Millionen auf, während sich etwa die Schweiz, Deutschland oder Frankreich über eine Handvoll Syrienflüchtlinge beklagen.»
Kenneth Roth findet es grundsätzlich richtig, zunächst den Flüchtlingen in ihrer Herkunftsregion ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Die einzige langfristige Lösung bestehe darin, Syrien wieder sicher zu machen.
«Der Westen muss mehr tun»
Dann wolle ein Grossteil der Flüchtlinge in die Heimat zurückkehren. Und das sei leichter aus Istanbul, Beirut oder Amman als aus Bern, Stockholm oder Berlin. Doch wolle der Westen den Flüchtlingsstrom wirklich bremsen, müsse er vor Ort weitaus mehr tun – nicht mit dem Tropfenzähler, sondern mit der ganz grossen Kelle helfen, mit Milliarden, allenfalls zig Milliarden.
Bei Human Rights Watch verfolgt man interessiert die skandinavischen Überlegungen, im Nahen Osten Flüchtlingsaufnahmelager nach westlichem Standard zu errichten. Dennoch ist Roth überzeugt: Trotz aller Bemühungen lassen sich Flüchtlingsbewegungen nie ganz auf die Krisenregionen begrenzen.
Europa wird zur multikulturellen Gesellschaft
Europa müsse seine Kultur, seine Selbstwahrnehmung verändern. Die europäischen Länder würden allesamt zu multikulturellen Gesellschaften – ob sie das nun wollen oder nicht. Und egal, ob sie eine weiche oder harte Ausländer- und Asylpolitik verfolgten. Das mache kaum einen Unterschied. Grosse Bevölkerungswanderungen lassen sich nicht stoppen, nicht mal nachhaltig bremsen. Es sei unmöglich, so der Menschenrechtler, Millionen von Menschen fernzuhalten oder zu deportieren.
Also stelle man sich besser auf das Unvermeidliche ein und versuche, möglichst viele Neuankömmlinge wirtschaftlich und gesellschaftlich rasch zu integrieren. Roth weiss, wie schwierig dieser Prozess politisch und kulturell für den Westen ist. Enorme innere Widerstände müssten überwunden werden.
Umdenken gefordert
Umdenken müssten aber endlich auch die reichen Golfstaaten im Krisengebiet selber. Seine Organisation kritisiere sie seit langem scharf. Weder bezahlten sie wirklich grosszügig für die Flüchtlingsaufnahme in Jordanien oder Libanon, noch nähmen sie selber überhaupt welche auf.
Die Golfmonarchen beschwörten zwar in Reden ständig die arabische Brüderlichkeit. Doch gehe es um konkretes Handeln, seien sie auf Tauchstation.
Mehr noch als der Westen seien sie gefordert, ihre Grenzen zu öffnen. Sonst, so erwartet, Roth, strömten die Flüchtlinge früher oder später ohnehin in die Ölmonarchien. Dorthin, wo das Geld ist.